Sonderheft 3, März 2005
Michael Pekler
... aber tot sein ist auch kein Vergnügen
Anmerkungen zu Jessica Hausners Hotel

Es gibt verschiedene Arten, einen ersten Blick auf ein Hotel zu werfen. Zumeist ragen sie, wie die Grandhotels der Filmgeschichte, plötzlich vor einem auf. Jessica Hausners Film hingegen beginnt in einem Hotellift. Irene fährt in den Keller. Aus dem Lautsprecher ertönt die übliche Beschallung. Liftmusik nennt man das, und Liftmusik ist noch viel schlimmer als zum Beispiel Kaufhausmusik. Weil man ihr auf engstem Raum ausgesetzt ist. Also ist auch das Knarren und Knarzen, das die Liftmusik für wenige Sekunden unterbricht, zu hören, sowohl für Irene als auch für ihren Begleiter. Doch es schafft nur kurze Irritation und wird nicht weiter beachtet (wie später so vieles andere auch im Verlauf des Films). Irene tritt ihren Dienst als Rezeptionistin an, und Herr Kos zeigt ihr den Weg. Er führt sie an diversen Lagerräumen vorbei zum Lieferanteneingang, der immer verschlossen sein muss. "Der Teufel schläft nicht", erklärt Herr Kos. Das ist ein Sprichwort, das man so sagt, wenn man sich nichts dabei denkt. Als plötzlich das Licht ausgeht, erklärt Herr Kos Irene die Funktion der automatischen Schaltuhr, die nach einigen Minuten von selbst für Dunkelheit sorgt. Sparsamkeit und Gottesfurcht haben einander in diesem Land schon immer gut ergänzt.

Tot sein ist bekanntlich gar nicht so einfach, wie es scheinen mag, vor allem für die Lebenden, die darüber nachdenken. Mag sein, dass Irene die Stelle im Hotel nur deshalb bekommen hat, weil ihre Vorgängerin spurlos verschwunden ist. (Man sieht später Taucher in einem nahe gelegenen See nach einer Leiche suchen und Polizisten sich in der Hotellobby fehl am Platz fühlen.) Es muss aber nicht sein. Es mag sein, dass an der Legende über die Waldfrau, die vor ein paar hundert Jahren und also in finsteren Zeiten in der Nähe in einer Höhle lebte und als Hexe verbrannt wurde, etwas Wahres dran ist. Es muss aber nicht sein. Es mag sein, dass die einzige Hinterlassenschaft der Toten in Irenes Zimmer, eine rot gerahmte Brille, etwas mit dem Verschwinden von Irenes Anhänger in Form eines Kreuzes zu tun hat, genauso wie das mögliche Auftauchen der Waldfrau mit den seltsamen Geräuschen aus dem Wald. Es muss aber nicht sein.

Jessica Hausners Hotel ist nämlich ein Film der Simulationen. Ein Film, der stets vorgibt, auf einer zweiten Ebene zu agieren, und es dem Betrachter überlässt, diese als solche zu erkennen (wenn es sie denn gibt); ein Film, der optische und akustische Zeichen wie blanke Kieselsteine streut, die den Weg weisen sollen (sich aber nicht vergewissert, dass sie auch aufgehoben werden); und nicht zuletzt ein Film, der sich im großen Fundus der einprägsamen Kinobilder umgesehen hat und sich damit wohl wissend buchstäblich bei Vor-Bildern bedient (sich allerdings nicht für eine Relektüre kollektiver Bildererfahrung interessiert, sondern für die Assoziation mit derselben).

Hinter Hotel steht eine große oder zumindest eine gute Idee. Natürlich geht es wieder um Einsamkeit und Entfremdung - von der Gesellschaft sowieso und immer also auch von sich selbst –, aber das ist ausnahmsweise vielleicht nicht einmal so wichtig. Die Einsamkeit und die Entfremdung, oder besser: Stagnation in das Spiel mit dem Horrorgenre - zumal den Topos des haunted house - zu übertragen, ist nämlich eine famose Ausgangssituation: ein nächtlich blau schimmernder Pool, umgeben von Hotelfluren mit riesigen Hirschgeweihen an der Wand; ein strahlend weißer Gang, in dem die Protagonistin sich in nichts auflöst und sich mitten im nachtschwarzen Wald wiederfindet; weiße, nackte Baumstämme im Mondlicht, die wie bleiche Skelette eine Grenze markieren. Diese Orte - und das ist in perfider Weise gleichzeitig Stärke und Schwäche des Films - ergeben dabei kein homogenes Ganzes, erlauben keinen Gesamteindruck, gewähren buchstäblich keinen Überblick. Voneinander losgelöst funktionieren sie jeweils nur für sich (der Pool, die obligate Dorfdiskothek, die Rezeption, die Hexenhöhle usw.), die Beziehung zueinander wäre einzig durch die jeweilige Verbindung zur Protagonistin möglich. Doch diese Form der Kommunikation bleibt ihnen versagt, und die Eindrücke, die sie bei der jungen Frau hinterlassen (ein eigenartiger Geruch in Irenes Zimmer, eine "von Geisterhand" verschlossene Tür, eine Schlägerei in der Diskothek, ...) zeigen keine Auswirkungen.

All das könnte der sichtbare Anteil von etwas sein, das irgendwo tief (in uns allen) steckt. Das Problem ist jedoch, dass das, was in Hotel als Zeichen fungiert und funktionieren soll, auf nichts anderes hinweist als auf sich selbst. Deshalb stellt sich auch nicht die Frage nach einem bestimmten oder "richtigen" Umgang mit gewissen Topoi des Genrekinos - von Kamerafahrten durch Hotelgänge à la The Shining bis zu aufgerissenen Augen angesichts des unsichtbar Schrecklichen à la The Blair Witch Project. Es tut auch einer Spannung im herkömmlichen Sinn - als gespannter Erwartungshaltung - keinen Abbruch, dass Hotel keine finale Lösung anbietet (was dem Film fälschlicherweise vorgeworfen wird); genauso wenig wie es stört, dass man das Angedeutete nie zu sehen bekommt (die Filmgeschichte ist voll von entsprechenden Beispielen). Denn einen bestimmten oder "richtigen" Einsatz solcher visueller und akustischer Stilmittel kann es gar nicht geben. Aber was es geben muss: das Ineinandergreifen, das einander komplettierende, das wechselseitige Bezugnehmen der Bilder. Hotel erzählt eine Geschichte mit Bildern, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben (wollen).

Hausner geht es um das, was vorgeblich unter der Decke der Normalität schlummert, und es spielt gar keine Rolle, ob man die Determinismus-Keule schwingen will oder diese lieber außen vor lässt (lassen wir sie lieber außen vor). Aber was ist das zu Erforschende, der Blick ins Innere? Jene Beklemmung, die der Ort (das Hotel, der Wald) und die Personen (in diesem Fall durchaus passend: das Personal des Films) auslösen könnten, ist es nicht. Irene wird mit ihrem Dienstantritt nicht in einen Sog des Unheimlichen gezogen, weil es ihn gar nicht gibt, und die Realität wird nicht als Beklemmung empfunden, denn sie ist nichts anderes als Monotonie und Routine des Alltags. (Es gibt keinen Ausbruchsversuch wie den der jugendlichen Protagonistin in Hausners Langfilmdebüt Lovely Rita.) Alles was Lust machen kann - nennen wir es in diesem Zusammenhang Lebensfreude –, wird durch die Mechanisierung zur Erstarrtheit: Pensionisten auf Kommando beim Einstudieren ihrer Tanzschritte; stumme Hotelangestellte beim Essen; der örtliche Kinderchor beim Vorsingen von Matthias-Claudius-Liedern.

Aber die Frage ist, ob es überhaupt notwendig oder gar sinnvoll ist, aus dieser Routine ausbrechen zu wollen. Denn ausbrechen kann nur, wer sich selbst als Individuum begreift. Wo es aber keine Form der Subjektivität gibt, gibt es auch keine Entwicklung. Hotel raubt jedoch nicht (wie bei Kubrick) in einem fortwährenden Prozess seiner Protagonistin deren Individualität, sondern verwehrt ihr von Anfang an eine solche. Wo nichts ist, kann aber nicht nur nichts werden, sondern auch nichts verloren gehen. Sondern sich schlimmstenfalls in nichts auflösen.


Michael Pekler
Geboren 1971. Studium an der Universität Wien. Freier Filmpublizist. Katalogredakteur der VIENNALE. Lebt und arbeitet in Wien.

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