Sonderheft 6, Oktober 2006
Michael Baute, Ekkehard Knörer, Volker Pantenburg, Stefan Pethke, Simon Rothöhler
“Berliner Schule” – Eine Collage

Mitte der 1990er Jahre sind auf Festivals zum ersten Mal Arbeiten von den Filmemachern zu sehen, die heute als Begründer einer „Berliner Schule” bezeichnet werden: Mach die Musik leiser von Thomas Arslan im „Panorama” der Berlinale 1994, Das Glück meiner Schwester von Angela Schanelec im „Forum” der Berlinale 1995 und Pilotinnen von Christian Petzold auf dem „Max Ophüls Festival” 1995 in Saarbrücken. Die drei Regisseure haben nahezu zeitgleich an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB) studiert.

Die DFFB ist eine kleine Schule, die wenigen Studenten kennen sich untereinander. Vor allem im ersten Studienjahr, in dem der jeweilige Jahrgang vom Lehrplan in diversen Einführungskursen eng beieinander gehalten wird, finden in ihrer Schärfe ebenso notwendige wie produktive Abgrenzungskämpfe statt. Schnell guckt man, wer aus den anderen Jahrgängen als Verbündeter in Frage kommt.
Während der 1970er Jahre hatte sich die DFFB den Ruf einer linksradikal-inhaltistischen Einrichtung erworben. Grob gesprochen wird dann mit dem Einzug von Video eine theoretisch-ästhetische Umorientierung eingeläutet. Der explizit politische Impetus schwächt sich mehr und mehr ab. Die Fraktion, die am deutlichsten erkennbar eine neue Position vertritt, ist diejenige, die den Pop-Diskurs in Stellung bringt, und zwar gegen die selbst ernannten Bauchmenschen und Macher-Typen einer notorisch theoriefeindlichen deutschen Filmlandschaft. Anfang der 1980er bis Mitte der 1990er hat das Modell des bohemistisch-künstlerisch-intellektuellen Filmemachers die größte Präsenz in der Institution DFFB.
Einige Namen: Christoph Dreher, Bärbel Freund (Aufnahme an der DFFB 1979); Frank Behnke (82); Reinhold Vorschneider (83); Wolfgang Schmidt (84); Angelika Becker, Ludger Blanke, Michel Freericks (85); Thomas Arslan (86); Christian Petzold (88). Blanke, Freericks, Arslan und Petzold besuchen ab Ende der 1980er viele Veranstaltungen gemeinsam, setzen sie im Rahmen einer weit gehenden studentischen Mitverwaltung auch durch und organisieren sie. So ist ein regelmäßiger Filmvorführtermin jahrelang fest in ihrer Hand und wird dazu genutzt, eine große filmische Bandbreite in den Blick zu bekommen.
Einige dieser Filme: Coup de Boule; Gallodrome; Hunde aus Samt und Stahl (Romuald Karmakar); Bike Boy (Andy Warhol); Two Thousand Maniacs; Blood Feast (Hershell Gordon Lewis), La Rosière de Pessac; Le Père Noel a les yeux bleus (Jean Eustache), Echoes of Silence (Peter-Emmanuel Goldmann), Landscape Suicide (James Benning), Two Lane Blacktop (Monte Hellman), die autobiografische Trilogie von Bill Douglas, Eltávozott nap (Marta Meszaros), Sherman's March (Ross McElwee), Spend It All (Les Blank), Der Lauf der Dinge (Fischli/Weiß) oder die Hundefilme von William Wegmann u.v.m.
Genauso divers wie diese Aufzählung gestalten sich die individuellen Ansätze bei der eigenen Praxis: Sie bewegt sich zwischen Reaktualisierungen ost-europäischer Ironie bei Freericks (Unser Mann im All; Chronik des Regens) und Warhol’scher Coolness bei Arslan (Risse; 19 Porträts). Wichtig sind auch fotografische Einflüsse: von Walker Evans über Robert Frank bei Petzold (Süden) bis zu Lee Friedlander und William Eggleston bei Blanke (Der Tod des Goldsuchers; 7 Melodies Chrono) und dem frühen Larry Clark wieder bei Arslan (Mach die Musik leiser). Und Comic-Vorbilder (besonders die Konturschärfe bei Petzold verweist auf die ligne claire-Schule seit Hergé). Eine Faszination für B-Formate industrieller Erzählweisen und starke Affinität für Underground-Sonderlinge über alle Gattungen hinweg – immer ist es ein Bezug auf Pop, ganz entscheidend auch Pop-Musik, der die gemeinsame poetologisch-ästhetische Grundlage stiftet.
Einige weitere Filme: Hilf mir, Gabrielle (Martin Schlüter/Irina Hoppe/Heino Deckert, 1986); Zwischen Gebäuden (Thomas Schultz, 1989), Cannae (Wolfgang Schmidt, 1989); Das Wasser des Nils wird zu Blut werden (Frank Behnke; 1989).

Irina Hoppe, zu der Zeit bereits Absolventin, ist zunächst die einzige Frau, die mit diesem Pop-Verein sympathisiert. Ihre ästhetische Komplizenschaft kann man in einer der schönsten Szenen von Blankes Der Tod des Goldsuchers (1989) sehen, in dem Hoppe – zusammen mit Florian Koerner von Gustorf (Trommler der Band MUTTER; später Produzent bei Schramm-Film, jener Firma, die dann die meisten Filme der Berliner Schule-Protagonisten herstellt) – dabei zu beobachten ist, wie sie das Dispositiv eines Improvisationsspielraums genießen und füllen kann: Der Dialog findet nie zu seinem Gegenstand, weil mit spontanen Aussetzern und Lachanfällen immer wieder die Wirklichkeit der Drehsituation in die Unterhaltung einbricht. Das erzeugt einen Ton, der als Stilmerkmal vielen dieser Filme eigen wird: ein luftiges Flanieren entlang der Grenzen zwischen Inszenierung und Dokument, zwischen Distanzarbeit durch Kunstgesten und Näheproduktion durch das Einbauen eigener Lebensrealitäten.
Hoppe dreht 1994 den Dokumentarfilm Deutschländer, ein merkwürdig unbeachteter Beitrag zur kinematografischen Auseinandersetzung mit der Migrantenthematik in Deutschland und ein wichtiger Bestandteil auch des Arslan’schen Werks, denn Arslan führt hier die Kamera – zwei Jahre, bevor mit Kardesler/Geschwister der erste Teil seiner Migranten-Trilogie entsteht, die 1999 mit Dealer und 2001 mit Der schöne Tag fortgesetzt wird.

Angela Schanelec, die Jahrgangsjüngste der drei vorgeblichen Begründer der „Berliner Schule” (DFFB-Jahrgang 90), kommt als ausgebildete Theaterschauspielerin an die Filmakademie. In der Spezifik der oben genannten Filme, vor allem jener Arslans, erkennt sie Antworten auf ihre persönlichen Fragen zu Inszenierungs- und Abbildungsverfahren des Kinos und geht sofort zum Produzieren über. 1992 ist sie Regie-Assistentin bei Arslans 40-Minüter Im Sommer (Die sichtbare Welt) (Kamera: Blanke; hier orientiert sich Arslan zum ersten Mal stärker an Eustache als an Warhol). Noch im selben Jahr dreht sie Ich bin den Sommer über in Berlin geblieben – wohl mit Anleihen an Arslan, aber vor allem inspiriert von der eigenen Lebenssphäre. Damit war dann eine Art Beweis vollbracht: Ja, diese Methode eines spezifischen Realismus funktioniert auch außerhalb des Jungs-dominierten Pop-Kontextes. Sie ist auf unterschiedliche Milieus und Sujets übertragbar. Nach Schanelecs Abschlussprojekt Das Glück meiner Schwester folgen die Filme Plätze in Städten (1998), Mein langsames Leben (2001) und Marseille (2004).

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Mitte der 1990er Jahre ist die deutsche Film- und Fernsehlandschaft geprägt von erfolgreichen Komödien, die zumeist von Münchener Produktionsfirmen in Zusammenarbeit mit den erstarkten Privatsendern produziert werden. Deren Propagandisten (Eichinger; Bild, Spiegel, Stadtzeitschriften, etc.) flankieren diese Filme mit einem zum Teil hässlich nachtreterischen Diskurs. Dieser behauptet eine Übermacht des aus den 1970ern übrig gebliebenen unpopulären „Autorenfilms”, gegen den ein publikumsbezogenes Selbstbewusstsein platziert wird, das vor dem „Oberhausener Manifest” anzusetzen habe. Man verlautbart die Notwendigkeit einer starken und schlagkräftigen Filmindustrie und denkt diese in den Grenzen von 1959. Medienwirksamer Ausdruck dieser filmpolitischen Restauration sind die “German Classics” von 1996, von Eichinger produziert; „cinema for television”, Remakes erfolgreicher Filme der Adenauerzeit, mit hohem Produktions- und PR-Aufwand für den Fernsehsender Sat1 (Leo Kirch) produziert und mit Filmförderung finanziert. Regisseure dieses Umfelds: Nico Hofmann, Sönke Wortmann, Rainer Kaufmann, Katja von Garnier und Eichinger selbst. Zugleich findet zu dieser Zeit eine Ausdifferenzierung des Marktes nach US-amerikanischem Vorbild statt. In Berlin gründen 1994 der Produzent Stefan Arndt und die Regisseure Dani Levy, Tom Tykwer und Wolfgang Becker die Firma X-Filme, die wie Harvey Weinsteins amerikanische Miramax die zum Marktsegment gewordene „Independent/Arthouse”-Schiene bedienen will. Beide Gruppierungen operieren mit einem filmästhetisch regredierten Genrebegriff, der mit einem damit scheinbar natürlich verbundenen Vollzug regelhafter Dramaturgie-Modelle Hand in Hand geht. In dieser Zeit besteht das Sprechen über Filme in Filmhochschulen, Filmproduktionsfirmen und Fernsehredaktionen größtenteils aus Phrasen der damals populären Drehbuchideologien (3-Akt-Struktur; plot points; Identifikation und Einfühlung; „powered by emotion”). Diese hatten sich in Amerika in den späten 1970ern mit der Neuformierung des Studiosystems nach „New Hollywood” herausgebildet und sich spätestens in den 1990ern als Evalierungswerkzeug zur Finanzierung von Filmen und mithin auch als Distributionskriterium bis hinein in die Filmkritik durchgesetzt. Die ökonomisch-distributorische Makro-Perspektive verdrängte die Mikroperspektive auf Abbildungsverfahren und Inszenierungspraktiken. Die Filme der „Berliner Schule” werden innerhalb dieser veränderten Rahmenbedingungen als Gegenentwurf lesbar.

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Den Begriff „Berliner Schule” benutzt als erster der Filmkritiker Rainer Gansera. In einem Artikel mit dem Titel “Glücks-Pickpocket” (Süddeutsche Zeitung, 3. November 2001) führt er anlässlich des Kinostarts von Thomas Arslans Film Der schöne Tag eine Reihe von Kriterien an, um eine gemeinsame Ästhetik in den Filmen Arslans, Schanelecs und Petzolds zu definieren: „Alle drei wollen die Wirklichkeit weder decouvrieren noch ironisieren. Sie erzeugen – ästhetisch am Gegenpol des Dogma-Vitalismus – Evidenzen, indem sie ihren Figuren Schönheit und Würde verleihen.” Man kann davon ausgehen, dass Gansera, der in den 1970er Jahren unter anderem in der Zeitschrift Filmkritik publizierte, eine historisch frühere “Berliner Schule” mitdenkt, die sich nach 1968 an der DFFB herausbildete. Nach dem Eklat um die Relegation von 18 Studierenden des ersten und zweiten Jahrgangs (unter anderem Harun Farocki und Hartmut Bitomsky) hatte eine Gruppe von Filmemachern als eine der vielen politischen Optionen, Filme zu machen, die Arbeiterklasse zum Protagonisten bestimmt. Mit Filmen wie Der lange Jammer von Max Willutzki (über Mietwucher im Berliner Märkischen Viertel) oder Liebe Mutter, mir geht es gut von Christian Ziewer (über einen Fabrikstreik) war Anfang der 1970er Jahre von einer „Berliner Schule des Arbeiterfilms” die Rede, die sich (auf der inhaltlichen eher als der formalen Ebene) als genuin politisch verstand und sich gegen die so genannten „Münchner Sensibilisten” (Ingemo Engström, Rüdiger Nüchtern, Gerhard Theuring, Matthias Weiss, Wim Wenders, u.a.) abgrenzte.
In gewisser Hinsicht ist in der Frontstellung eine innerfilmische Fortsetzung des Streits zwischen der „politischen” und der „ästhetischen Linken” zu erkennen, der ab Mitte der 1960er Jahre in der Zeitschrift Filmkritik ausgetragen wurde. Von der Filmkritik aus, die 1984 ihr Erscheinen einstellen musste, gibt es eine Verbindung zur DFFB der 1980er Jahre und damit auch zu den Filmemachern der jüngeren „Berliner Schule”: Filmkritik-Autoren wie Peter Nau, Manfred Blank und Helmut Färber unterrichteten an der Akademie ebenso wie Harun Farocki, der bis heute an den Filmen Christian Petzolds dramaturgisch maßgeblich mitarbeitet, und der heutige Leiter der Schule, Hartmut Bitomsky. In Bitomskys Film Kino Flächen Bunker (1991) spielt Petzold mit, von Der VW-Komplex (1988/89) führt ein direkter Weg nach Wolfsburg (Petzold, 2002). Allerdings springt die Nähe zwischen dem explizit politischen Ansatz der Filme Bitomskys und Farockis und den eher am französischen Kino der zweiten Nouvelle Vague orientierten Filmemachern der zweiten „Berliner Schule” nicht ins Auge; zu finden ist sie etwa in der Auffassung, dass das Erzählen und das Erörtern zusammengehören, wie sie in Christian Petzolds Filmen zu erkennen ist.

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Die Affinität der „Berliner Schule”-Regisseure der 1990er Jahre zur zweiten Nouvelle Vague-Generation (Eustache, Philippe Garrel, Jacques Doillon, Maurice Pialat, Benoît Jacquot) ließe sich vielleicht über einen implizit geteilten nach-utopischen Politikbegriff rekonstruieren, der gesellschaftlichen Wandel nur noch über den Rückzug ins Private und dort stattfindende Zellbildungen denken kann. Der Reihe prekärer Mikrogemeinschaften, die vor allem die Filme Garrels und Doillons bevölkern, könnte man die Familienzelle aus Christian Petzolds Die innere Sicherheit in vielerlei Hinsicht hinzufügen. Petzolds erster Film mit regulärer Kinoauswertung nach den Fernsehproduktionen Pilotinnen, Cuba Libre und Die Beischlafdiebin verschafft der Berliner Gruppierung im Februar 2001 einen ungeahnten Aufmerksamkeitsschub, der schließlich sogar zur “Goldenen Lola” führt, dem mit 500.000 Euro dotierten Deutschen Filmpreis. Die meisten Auszeichnungen auf der im Juni 2001 stattfindenden Veranstaltung erhält Oliver Hirschbiegels Das Experiment; mit dem silbernen Band abgefunden werden Der Krieger und die Kaiserin von Tom Tykwer und Crazy von Hans-Christian Schmid.
Zwei Jahre später fusioniert der immer schon marktorientierte Deutsche Filmpreis auf Initiative von Bernd Eichinger, Ulrich Felsberg und Helmut Dietl mit der neu gegründeten Deutschen Filmakademie. Die damit einhergehende Umfunktionalisierung – das zumindest nominelle Kultur-Förderinstrument degeneriert zum verlängerten Arm der ohnehin dominierenden Branchenkräfte – verringert die Auszeichnungs- und damit: Subventionschancen weniger kommerziell gepolter Produktionen nochmals. Gegen diese filmpolitisch bedenkliche Weichenstellung unterzeichnen vierhundert Filmschaffende (unter ihnen Arslan, Petzold und Schanelec) 2003 einen Protestbrief, der die im Bundeskulturausschuss schnell durchgewunkene Entscheidung aber nicht mehr beeinflussen kann.
Hintergrund für die offiziellen Würdigung von Die innere Sicherheit ist aber eine andere Koinzidenz: Kurz vor dem Verleihstart des Films arbeiten sich die beiden Leitmedien der Bundesrepublik – der Spiegel und die Bild-Zeitung – erneut an mittlerweile im politischen Establishment fest verankerten Schlüsselfiguren der 68er-Generation ab. Der damalige Außenminister Joschka Fischer soll sich bekennen, Molotow-Cocktails geworfen zu haben, Umweltminister Jürgen Trittin wird mit einer Bild-Manipulation der Bild-Zeitung konfrontiert, die ihn als Schlagstock schwingenden Sponti darstellt. Es kommt sogar zu einer außerplanmäßigen Bundestagsdebatte, und der Spiegel titelt am 29.1.2001: „Das Gespenst der 70er – Die Gegenwart der Vergangenheit”. Petzold argumentiert in zahllosen Interviews gegen die vereinseitigend auf seinen Film projizierte Erwartung an, dieser sei eine Bestandsaufnahme der Folgewirkung des RAF-Terrorismus. Der äußerliche Erfolg des Films ist in jedem Fall kaum ohne die ihn überlagernde diskursive Mobilmachung zu begreifen. Die innere Sicherheit ist bis heute mit Abstand der größte Publikumserfolg der „Berliner Schule” (120.000 Zuschauer), sein Regisseur wird zu diesem Zeitpunkt – nicht zuletzt durch eine ausführliche Rezeption in Organen wie Texte zur Kunst – ihr erster Protagonist.

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Was die „Schule” zur Schule macht, wäre eine gemeinsame Ästhetik. Oder jedenfalls eine Differenz, oder eine Serie von Differenzen, die das Formulieren von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit möglich machen. Man sollte also nach Ähnlichkeiten zu Mitgliedern der „Schule” und Differenzen zu Nicht-Mitgliedern suchen. Die gemeinsame Geschichte (DFFB), die Rezeption wären dann Symptome einer Gemeinsamkeit und erlaubten dann auch eine Offenheit für Neuzugänge, eine Offenheit also, die in der (Eigen-)Wahrnehmung jüngerer Regisseure als Neu-und-jetzt-also-auch-Mitglieder der „Berliner Schule” sichtbar wird. Die Regisseure und Gründer der Filmzeitschrift Revolver, Christoph Hochhäusler (als Propagandist einer solchen Ein- und überhaupt Gemeindung) und Benjamin Heisenberg fügen ihr Tun dem Zusammenhang des als Schule Wahrgenommen hinzu. Valeska Grisebach, Ulrich Köhler und Henner Winckler sind vorsichtig mit Selbstzuschreibungen dieser Art, werden aber von wohlwollenden Filmkritikerinnen wie Katja Nicodemus (DIE ZEIT) und Cristina Nord (taz) in den Schulzusammenhang eingeordnet. Hochhäusler (Milchwald; Falscher Bekenner) und Heisenberg (Schläfer) waren auf der Münchener Filmschule, Köhler (Bungalow; Montag kommen die Fenster) und Winckler (Klassenfahrt; Lucy) sind Absolventen der Hochschule für bildende Künste Hamburg, Grisebach (Mein Stern; Sehnsucht) hat an der Filmakademie Wien studiert. Jetzt lebt man in Berlin und ist miteinander im Gespräch. Man sieht die Filme der anderen und denkt sich sein Teil. Man bezieht sich in Interviews auf die anderen als Freunde oder solche, die man gerne zu Freunden hätte. Eine wichtige Verbindungsfigur ist der Kameramann Reinhold Vorschneider, der seit Plätze in Städten die Filme Angela Schanelecs fotografiert, und bei einigen Filmen der oben genannten die Kamera führt. Er arbeitet auch an den Filmen Maria Speths mit, die an der HFF Potsdam studiert hat und als Solitär innerhalb dieser Konstellation bislang zwei Filme gedreht hat: In den Tag hinein; Madonnen.

Die Grenzen zu denen, die keine Freunde sind und auch keine mehr werden, liegen einerseits Fall für Fall anders. Andererseits kann man generell wohl sagen: Die Bezüge auf französischen Film stehen im deutschen Filmbetrieb schnell unter Intellektualitätsverdacht. In seiner Antrittsrede als Honorarprofessor an der Kölner IFK im Mai 2006 setzt sogar Dominik Graf die Reflexion auf Form mit Verlust an Wirklichkeit gleich und predigt einen neuen Vitalismus; im Rückbezug auf Genre-Erzählungen soll die Wiedergewinnung eines lebendigen Kinos gelingen. Bernd Eichinger – und seine ausführenden Organe – dagegen sind in der Regel so naiv, wie sie tun; und stolz darauf. Anders als Tykwer, der mit beträchtlichem Pathosaufwand den schmalen Grat zwischen Popularität und Kunstfilmtradition sucht. Daneben stehen eine ganze Reihe von Sozialrealisten mit komödiantischem Einschlag, von Andreas Dresen bis Wolfgang Becker oder Detlev Buck, die den eher unreflektierten Glauben an die Unmittelbarkeit der Errettung von Wirklichkeit im Film zum Programm erheben.
Was die freien Radikalen des deutschen Films betrifft, so gibt es Nähen zwischen der „Berliner Schule” und Romuald Karmakar, der den Film als explizit politische Kunst begreift – Politik dabei aber als Passung von Inhalt und Form versteht; es ist kein Zufall, dass er deshalb, wie die bei Bitomsky und Farocki in die Lehre gegangenen Berliner, immer auch über das Verhältnis von Dokumentarischem und Fiktion nachdenkt.

In der Beschreibung des Realismus der „Berliner Schule” ist von Langsamkeit die Rede, von Genauigkeit, von Alltag. Diese Filme spielen im Hier und Jetzt und handeln von Menschen und Geschichten, denen im Alltag zu begegnen einen nicht erstaunen müsste. “Berliner Schule”-Filme sind, anders gesagt, keine Genre-Filme. Oder, wenn sie Genre-Filme sind (man denke an Arslans Dealer oder überhaupt an das Werk von Christian Pe–tzold, von Cuba Libre über Toter Mann bis Gespenster), dann werden die Bezüge auf Genregeschichte (Selbstreferenz) gekontert durch präzise Verortung, dann werden die Genre-Geschichten und Genre-Typen an Soziotope gebunden und Milieus, die mit Realitätseffekten gesättigt sind (Fremdreferenz).

Realismus ist hier Programm und Form zugleich. Mit der Hoffnung, dass Wirklichkeit sich in Darstellung einfach so einstellt, ist es nicht getan. Realismus heißt hier ein Haften an den Menschen und Dingen, wie sie sind. Verismus. Das oberste Gebot der “Berliner Schule” wäre das Verbot der Manipulation – der Wirklichkeit, aber auch des Betrachters. Alles Weitere lässt sich daraus ableiten. Man verschreibt sich der Beobachtung und verbietet sich die Intervention (bzw. man interveniert gegen falsche Interventionen), man hat ein Konzept der Darstellung, das den Schauspielern das Schauspielern austreiben will, der Kamera die Selbsttätigkeit, der Montage das Autoritäre und dem Erzählen das Verfallen auf Topoi und Klischees. Man verbietet sich fast durchweg die extradiegetische Musik als Unterstreichung: Originalton. Die Welt ist es, die erscheinen soll: Originalwelt. Die Wirklichkeit ist der Fetisch, ihre gerechte Darstellung ist „Schönheit” (Schanelec).

Das ist kein Rückfall in eine falsche Unmittelbarkeit, sondern ein reflektierter Realismus. Bewusste Übertragung und Modifikation von theoretisch und filmhistorisch abgeleiteten Verfahren. Von Bresson kommt der Zug der Verfremdung, das Hintertreiben der Illusionierung. Der wirklichen Wirklichkeit muss man auflauern, sie ist hinter den Dingen, als ihre Regung. Das Kino ist der Apparat, mit dem man den Regungen der Dinge und der Menschen (die ein Sonderding mit Eigenleben unter Dingen sind) auf die Spur kommt. Das Kino ist eine Maschine der phänomenologischen Öffnung auf die Welt, aber das kann es nur sein, wenn es sich in höchstem Maße zurückhält. Es bedarf eines Innehaltens, einer Einklammerung der „natürlichen Einstellung” – einer Arbeit gegen die Konvention. Dem Kino der „Berliner Schule” ist diese Arbeit als Anstrengung eingeschrieben und anzusehen. Man spürt – jedenfalls in den Filmen von Arslan, Petzold und Schanelec – die Kraft, die eine solche Anstrengung kostet. Man merkt: Es ist nicht leicht, sich einer Zurichtung zu enthalten.

Man könnte auch sagen: Es ist unmöglich, sich einer Zurichtung zu enthalten. Der Verismus der „Berliner Schule” verdankte sich so gesehen einer „Authentizität zweiter Ordnung”. Dieses ästhetische Konzept begründet – womöglich anders, als die Filmemacher glauben – ein System. Ein System der angestrengten Enthaltung, das eine „Wirklichkeit” der Regungen in der Darstellung hervorbringt; und dieser Wirklichkeit unterstellt, sie sei das wahre Antlitz der Welt. Man muss diese Setzungen nicht teilen, um zu sehen: So entsteht eine “Schule”. Sie hat Glaubensgrundsätze und damit Techniken zur Hervorbringung eines ganz eigenen Bildes von Wirklichkeit: Metaphysik eines phänomenologischen Realismus.
(mit Dank für Hinweise und Kritik an Ludger Blanke, Michel Freericks und Wolfgang Schmidt)


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