Sonderheft 7, März 2007
Dennis Lim
Verpixelte Kopfwelten

Über David Lynchs INLAND EMPIRE

Wie Sie zweifellos schon gehört haben, liebt David Lynch Digitalvideo – und zwar mit der grenzenlosen Begeisterung eines Neubekehrten und dem unbekümmerten Staunen eines Kindes in einem Spielzeugladen. Mit 61, im selbst gewählten Exil und auf der Flucht vor der Filmindustrie, die andererseits immer mehr zum Fokus seiner Obsessionen wird, erscheint ihm Video als Rettungsanker, als Chance auf Unabhängigkeit, als Schutz gegen die immer offenkundiger werdende Sterblichkeit des Films. Lynchs eigener Aussage zufolge markiert INLAND EMPIRE, seine monströse, phantastische dreistündige Erkundungsreise durch die kaputte Psyche eines Hollywoodstars, den Beginn einer unerschütterlichen Begeisterung für Digitalvideo, ein Medium, das er für gewöhnlich etwas polemisch als „schön“ bezeichnet.

Dabei bezieht er sich einerseits auf die Methode: Video hat es ihm ermöglicht, zum ersten Mal völlig frei, flexibel und spontan zu arbeiten. Die Dreharbeiten zu INLAND EMPIRE – ein loses Patchwork uneinheitlich ineinander verschachtelter Erzählungen – dauerten mehr als drei Jahre, wurden ohne fertiges Drehbuch und sogar ohne grundlegendes Konzept in Angriff genommen. Immer wenn Lynch eine Idee für eine Szene hatte, schrieb er sie nieder und drehte sie. Aber natürlich hätte der Film auf andere Weise gar nicht entstehen können. So wie die Struktur von Mulholland Dr. (2001) – mit seiner Bruchlinie und seinen Epiphanien – die Entwicklung vom TV-Piloten mit offenem Ende zum eigenständigen Film widerspiegelt, verdankt sich auch die Form von INLAND EMPIRE seinen Entstehungsbedingungen. INLAND EMPIRE reflektiert die Erfahrung des völligen Eintauchens und des ständigen Verlustes und wirkt wie das Produkt eines ununterbrochenen, unredigierten Ideengewitters. Kein Herumstehen und Warten auf Geld oder auch nur darauf, dass sich ein großartiger Film abzeichnet. „Schön“ ist hier das weitgehende Fehlen von Barrieren zwischen dem Unbewussten des Regisseurs und dem, was er auf die Leinwand bringt.

Aber das Problem der Ästhetik ist damit nicht gelöst. Das schmuddelige INLAND- EMPIRE-Video ist Welten – und viele Millionen Dollar – entfernt von den Nachthimmeln in Michael Manns Miami Vice, die sich so gut als Bildschirmschoner eignen. Lynch hat die HD-Technologie zugunsten einer Sony PD-150 aufgegeben, eines veralteten professionellen Mittelklasse-Camcorders, mit dem er vor fünf Jahren zu experimentieren begonnen hatte, als er Kurzfilme für seine Website davidlynch.com drehte. Lynchs grellbunte Szenarien werden für gewöhnlich von der verführerischen Opulenz seiner Bilder etwas abgemildert. Die videobedingt verschwommenen Bilder von INLAND EMPIRE sind gewöhnungsbedürftig, nicht zuletzt, weil die Form dem Inhalt nur allzu gut entspricht. Die matschigen, grob verpixelten Bilder sind ein getreues Abbild der ausgelaugten, zersplitterten Kopfwelten, die der Film inszeniert. Lynch bemüht sich so gut wie nicht, das Ungeschlachte des Mediums zum Verschwinden zu bringen, er steht bedingungslos zu Grobkörnigkeit, Flimmern und Schatten, und deshalb sind seine Videobilder genauso taktil wie seine Zelluloidbilder. Es gibt sogar ein paar Momente (auf einer verschneiten polnischen Straße), die sich mit herkömmlicher Schönheit messen können, und noch ein paar andere – Studien extremer Dunkelheit und extremer Helligkeit –, die daran erinnern, dass Lynch seine Karriere als abstrakter expressionistischer Maler begann. Da der Film auf herkömmliche Erzähllogik verzichtet, scheint die Entscheidung umso mehr gerechtfertigt zu sein. Digitalvideo ist gleichzeitig weniger realistisch und realistischer als alles, woran unser an herkömmlichen Filmen geschulter Blick gewöhnt ist. Video verhält sich zu Film wie Träume oder Alpträume zur Realität.

Zu weiten Teilen beschränkt sich INLAND EMPIRE einfach darauf, Laura Dern anzuhimmeln, die mit ihrer jetzt schon legendären Performance Mut und Intuition unter Beweis gestellt hat . Sie lässt entstellende Weitwinkelnahaufnahmen über sich ergehen, verzerrt ihre Züge zu einer Grimasse der Verstörung und Verzweiflung, während ihr hin und wieder ein paar transzendente Augenblicke der Erholung gegönnt sind. (Ihre Gesichtsmuskeln verdienen einen eigenen Oscar.) Dern spielt Nikki Grace, eine Schauspielerin, die in einer höhlenartigen Hollywoodvilla lebt und eine begehrte Rolle in einem Südstaatendrama mit dem Titel On High in Blu Tomorrows ergattert hat. Ihr Partner ist der aalglatte Frauenheld Devon (Justin Theroux). Bald findet sie heraus, dass der Film ein Remake ist und dass die ursprüngliche polnische Produktion nach dem Mord an den beiden Hauptdarstellern abgebrochen werden musste.

Nikki beginnt mit ihrer Rolle (Sue) zu verschmelzen, und der im Drehbuch vorgesehene Ehebruch findet auch in Wirklichkeit statt. Doch was ist schon die Wirklichkeit, und wer bevölkert wessen Träume? Die Grenze zwischen dem Film und dem Film im Film – sowie zwischen allen Ebenen der Realität – beginnt immer mehr zu verschwimmen. Abgesehen von Nikki und Sue spielt Dern noch mindestens zwei andere Frauen, die im Grunde nur einander ergänzende Varianten ein- und derselben Rolle sind. Die eine lebt in einem schäbigen Haus in der Vorstadt und umgibt sich zeitweise mit einem Harem Kaugummi kauender, Finger schnippender junger Frauen, die andere ist eine Südstaatenlady, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt und in einem muffigen Zimmer üppig ausgeschmückte vulgäre Geschichten über sexuelle Gewalt und schreckliche Rachefeldzüge erzählt. (Diese Szenen hat Lynch gleich zu Beginn gedreht – eine durchgehende siebzigminütige Aufnahme auf der Basis eines 14 Seiten langen Monologs.) Der Film ist mit Szenen einer absurden Sitcom mit hasenköpfigen Darstellern durchsetzt. Gewisse Sätze, die das Durcheinander thematisieren („Ich bin nicht die Person, für die du mich hältst“,„ Schau mich an und sag mir, ob du mich von früher kennst“), werden in verschiedenen Zusammenhängen wiederholt und nehmen allmählich die magischen Qualitäten eines Talismans an. (Der Schlüssel zur transzendentalen Meditation, die Lynch nun seit drei Jahrzehnten praktiziert, ist die Wiederholung eines persönlichen Mantras.) In der Zwischenzeit wird der Film, den wir gerade sehen, auf den Bildschirm eines TV-Geräts in einem Hotelzimmer übertragen, und eine geheimnisvolle Brünette schaut ihn sich gemeinsam mit uns an, wobei sie leise vor sich hinweint.

Mulholland Dr. ist vielleicht ein kulinarischerer Film, auch wenn er eine rauere Realität darstellt: einen von einem Traum überlagerten Alptraum. INLAND EMPIRE ist fast durchgehend ein Alptraum, aber er reibt sich verzweifelt die Augen, um aufzuwachen oder zumindest in einen Zustand der Verzückung überzugehen. („Suhweet“ ist das letzte Wort.) Wie Mulholand Dr. ist der Film eine Hommage an gewisse Schauspielerinnen, nicht zuletzt an jene, die „auf dem Markt verloren gegangen sind“, wie es Nikki Graces unheimliche Nachbarin formuliert, als sie ein düsteres Märchen über Mädchen erzählt, „die zum Spielen hinausgegangen sind“. „Weißt du,was Huren machen?“, fragt jemand in der Eingangsszene. Mehr als zwei Stunden später, während eines mitternächtlichen Zusammenbruchs, der um des maximalen Effekts willen auf dem Hollywood Boulevard inszeniert wird, stellte Dern den Zusammenhang her: „ Ich bin eine Hure, ich bin ein FREAK!“ Daraufhin rammt ihr jemand einen Schraubenzieher in den Bauch , sie bricht blutend und Blut hustend zusammen, während ein paar Obdachlose verwirrt um sie herumstehen.

Aber Lynch hat kein Interesse an Sozialkritik oder feministischen Statements. INLAND EMPIRE beschäftigt sich mit dem Handwerk, der Psychologie und der Metaphysik des Schauspielens – er postuliert, dass Schauspielen eine durch und durch körperliche Erfahrung ist. Lynchs Universum ist äußerst anfällig für kosmische Störungen, und ein paar hexenhafte Krächzer von Grace gemeinsam mit dem leisen Wummern des Basses genügen, damit das Zeit-Raum-Gefüge aus den Fugen gerät. Aber der auslösende Moment ist eigentlich, als wir Nikki zum ersten Mal spielen sehen, bei einer Probe mit Devon und ihrem Regisseur (Jeremy Irons). Die Szene ist purer Nonsens, und Dern sensationell (das ist natürlich ein Zitat von Naomi Watts Lachnummer in Mulholland Dr. ).

Nikkis Performance ist so gut – so echt?–, dass sie ein geheimnisvolles Geräusch in den Tiefen der Tonbühne auslöst, den finsteren Winkeln, die den Tiefen unseres Unbewussten entsprechen. Später, in einer fesselnden Szene, die daran erinnert, wie Robert Blake in Lost Highway (1997) sich selbst anruft, geht Nikki über eine Allee und findet sich in der Vergangenheit wieder. Sie sieht sich selbst bei einer Probe und stellt fest, dass sie der Eindringling ist, der sich in der Dunkelheit versteckt. Der Schock der Erkenntnis – der sich oft als Déja-vu-Erlebnis manifestiert ist eine Konstante in Lynchs Filmen, und wahrscheinlich ist kein Schock größer als der der Selbsterkenntnis, etwa wenn Kyle MacLachlan in Blue Velvet (1986) durch die Jalousien späht und einen sadistischen Akt sieht, der ihn durchaus anspricht, oder wenn sich die Heldinnen aus Mulholland Dr. im Club „Silencio“ zusammendrängen und über ihre verlorenen Illusionen sprechen.

Lynchs Website davidlynch.com hat in vielerlei Weise den Weg für INLAND EMPIRE geebnet. Einige Elemente waren bereits dort vorhanden: Rabbits war eine Onlineserie und „Axxon N.“, ein bedeutungsvoller Satz im Film, hätte der Titel einer weiteren Serie sein sollen. Außerdem hat man bei dem abrupten, impulsiven Rhythmus des Films das Gefühl, man würde durch das Web surfen – jede Szene ein Hyperlink zur nächsten. Und die Muffigkeit des Labyrinths, das Lynch als System miteinander verbundener Räume und Flure inszeniert, sodass Lódz (Polen) und Los Angeles ineinander übergehen, ist sinnlich spürbar.

Mit seinen beiden letzten Filmen hat Lynch den Eindruck erweckt, ein seit langem verschollener südkalifornischer Cousin Jacques Rivettes zu sein. Wie in vielen Filmen Rivettes ist auch in INLAND EMPIRE die Erzählung ein Raum, der bewohnt werden will, eine gespenstische Kraft. Aber INLAND EMPIRE ist einzigartig, selbst im Universum von David Lynch. Allenfalls ist er noch mit dem Blick in den Abgrund zu vergleichen, den Scott Walker in seinem erst vor kurzem erschienenen heroischen Album The Drift inszeniert hat. Wie dieses macht auch INLAND EMPIRE der Selbstzufriedenheit des Publikums den Garaus und begibt sich an die fernen Küsten der Dissonanz und der Abstraktion. Dort findet er genau das, was er versprochen hat: Schönheit.

Dieser Artikel ist erstmals erschienen in cinema scope, 29.
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Aus dem Amerikanischen von Karin Fleischanderl.



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