Marcus J. Carneys Film über die nationalsozialistische Vergangenheit der eigenen Familie: The End of the Neubacher Project
Die Eröffnungssequenz von The End of the Neubacher Project, der sein eigenes Ende oder Scheitern schon im Titel ankündigt, versammelt alle späteren Motive, zeigt uns das Ganze als Miniatur kurzer, emblematischer Szenen. Eine subjektive Kamera, die das rustikale Dekor einer Wohnung abtastet wie in einem dilettantischen Homevideo: handgeführt, uneben ausgeleuchtet, zu nahe dran an den Dingen. Das Zuhause, das sind Vögel im Käfig, tote Tierköpfe an der Wand und festlicher Osterschmuck. Es folgt eine Pflegesituation. Eine Ärztin bei der Arbeit – wie wir später erfahren: die Mutter des Filmemachers. Dann eine Jagdgesellschaft im Wald. Ein Mann in Jägertracht, das Gewehr über der Schulter. Dann Marcus Carney selbst, beim Pitching seines „Projektes“ vor einem Auditorium. Ein Film über „Morbus Austriacus“ solle es werden, über die österreichische Krankheit des Schweigens und Verleugnens der dunkelbraunen Vergangenheit, durchdekliniert anhand der Verwicklungen der eigenen Familiengeschichte mit dem Nationalsozialismus. Zornig und anprangernd setzt Carney dazu an, über die Verfehlungen seiner Vorfahren zu berichten, da wird unvermittelt der Ton ausgeblendet. Im Voice-over kommentiert der Regisseur seine einstigen Pläne mit mildem Sarkasmus: „Damals hatte ich noch keine Ahnung, wie konkret diese Krankheit werden würde.“
Er bezieht sich nicht länger auf den „Morbus Austriacus“, sondern auf das individuelle Schicksal seiner Mutter. Diagnose: Lungenkrebs. Damit hatte Carn ey nicht gerechnet. Anstatt zur Anklage, die ihn endgültig in Distanz zur eigenen Herkunft gesetzt hätte, wird der Film, nach knapp achtjähriger Produktionsphase in wahrlich letzter Minute zum Vehikel einer verspäteten Liebeserklärung an die eigene Mutter. Wenn das Projekt der Familie Neubacher, wie Carney einmal bitter bemerkt, stets im Verschweigen bestanden hat, dann kann das „Ende“ des Filmtitels nun auf zweierlei Arten gelesen werden – als das endliche Zur-Sprache-Bringen der Familienschuld genauso wie als das Scheitern von Carneys vermutlich ursprünglicher Absicht, zwischen Täterenkel und Täterkinder einen unüberwindlichen Graben zu ziehen.
Das Unternehmen, dokumentarisch die Vergangenheit des Dritten Reiches in der Gegenwart der eigenen Familie aufzuarbeiten, verbindet The End of the Neubacher Project mit einer Reihe anderer Dokumentarfilme jüngerer Zeit, etwa mit Das wirst du nie verstehen (2003) von Anja Salomonowitz oder mit 2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß (2005) von Malte Ludin. Dessen Vater Hanns Ludin, SA-Mann der ersten Stunde, war Stellvert reter des Führers in der Slowakei, persönlich zuständig für die Deportation der Juden in diesem Gebiet und wurde 1947 dort als Kriegsverbrecher hingerichtet. Auch Carneys Vorfahren waren prominente Mitglieder der Nazi-Elite. Der Großvater Eberhard Neubacher war Direktor des Lainzer Tiergartens und veranstaltete Jagdausflüge für Parteimitglieder und Nazi-Funktionäre, darunter Hermann Göring, der dem Opa eine Flinte schenkte, die immer noch in Familienbesitz und Gebrauch ist. Eberhards Bruder Hermann war bereits Mitglied der österreichischen NSDAP, als diese noch illegal war und wurde nach dem „Anschluss“ von Hitler in den Rang des Bürgermeisters von Wien erhoben. Später war er als „Sonderbeauftragter Südost“ unter anderem mit der Ausplünderung Rumäniens, Serbiens und Bulgariens beauftragt. Die Handlungen beider Ahnen waren mithin längst bekannt und Bestandteil der Geschichtsschreibung.
Nicht um eine Investigation der Vergangenheit der Toten geht es aber bei Carney, Ludin oder Salomonowitz, sondern um die therapeutische oder kathartische Konfrontation der lebenden Familienmitglieder mit Tatsachen, über die in den heimischen vier Wänden nicht oder nur verdeckt geredet wurde. Und um das, was es mit einem selbst anstellt, wenn man die schuldhafte Vergangenheit der eigenen Familie filmisch aufarbeiten will: was meist bedeutet, mit dem Schweigen oder dem Unverständnis der eigenen Geschwister, Eltern, Großeltern konfrontiert zu sein.
In diesem Sinn zielt The End of the Neubacher Project nicht auf Vergangenes, sondern auf die Bewältigung der Gegenwart und ist Protokoll einer persönlichen Erfahrung und eines Lernprozesses, den der Zuschauer mitverfolgen darf. Mehr als sechs Jahre filmte der Regisseur jedes Telefongespräch mit seiner Mutter, machte Dutzende von Interviews und häufte dabei insgesamt mehr als 260 Stunden Bildmaterial an. Das klingt weniger nach einem „Projekt“, das irgendwann einmal zu Ende gebracht werden will, als nach einem persönlichen Exorzismus: nach der Dauer, die notwendig ist, um ein Trauma zu überwinden. Carney muss lernen, das Verdrängen seiner Mutter nicht zu billigen, aber vielleicht zu verstehen. Keinesfalls geht er so weit, denen, die uneinsichtig sind, Absolution zu gewähren. Aussagen des Onkels wie „Es war nix da, was man hätte bewältigen müssen“ und „Ich glaub die Zahl von sechs Millionen bis heute nicht“ müssen nicht weiter kommentiert werden. Auch die Großmutter profitierte persönlich von den Vertreibung und Enteignung der Wiener Juden, wie Recherchen Carneys und Aktenfunde belegen. Fragen nach den Ereignissen von damals weicht sie beharrlich aus.
Die Familienvergangenheit – damit ist auch die nicht aufgearbeitete Scheidungsgeschichte von Carneys Eltern gemeint. Alte Super-8-Aufnahmen zeigen ein Paar im Schnee, Szenen jungen Familienglücks. Doch der idyllische Schein trügt. Er ist Amerikaner, sie die Tochter eines Mannes, der ihr angedroht hatte: „ Wenn du einen Amerikaner oder einen Juden heiratest, erschieße ich dich persönlich.“ Zwar war Carneys Großvater längst gestorben, als seine Eltern einander begegneten. Dennoch wird sich die Mutter des Regisseurs kurz nach dessen Geburt scheiden lassen, aus den USA in die Heimat Österreich zurückkehren und den Kontakt zum Vater, dessen Namen Carney trägt, den er aber als Kind nie kennenlernen darf, vollständig abbrechen. Die genaueren Gründe dafür erfahren wir nicht, aber spürbar wird: So mächtig ist Eberhard Neubacher noch als Toter. Dem Sohn habe in der Kindheit eine „positive männliche Bezugsfigur“ gefehlt, bedauert die Mutter im Interview, aber damit meint sie nicht Carneys Vater, den sie selbst verlassen hat, sondern den zu früh verstorbenen Großvater.
Carney macht es weder sich noch dem Zuschauer leicht. Ein „episches Homemovie“ nennt er seinen Film, der Aufnahmen von Weihnachtsfeiern, mitgeschnittene private Telefongespräche über das Sterben seiner Mutter, Archivmaterial aus der NS-Zeit und Bilder aus dem Familienalbum versammelt. Und immer wieder Einstellungen auf seine Mutter im Krankenhaus, minutenlang, als könnte das Festhalten ihres Bildes ihr Sterben irgendwie hinauszögern. Der Film überschreitet bewusst die Grenzen dessen, was man normalerweise an privaten Einblicken zugemutet bekommen möchte. Dass er den sicheren Platz der Erzählkonvention verlässt, wenn er seine Familie und sich selbst auf diese Weise filmt, weiß Carney genau: „Es ist nicht angenehm, das führt zu einer beträchtlichen Schizoidität beim Drehen, denn natürlich bewirkt die Kamera, die gegen einen selbst – das heißt auch die Mutter – gerichtet ist, einen Grad von Selbstverletzung, die aber weit weniger ins Gewicht fällt als die originalen Verletzungen. Die Kamera bekommt etwas Waffenartiges, und ich wiederum etwas Neubacherisches. Allerdings steht am Ende nicht nur der Tod, sondern auch emotionale Erkenntnis, die geteilt werden kann.“