Watts ist ein vormals industriell geprägter Stadtteil im Süden von Los Angeles. Im August 1965, wenige Monate nach der Ermordung von Malcolm X, machte sich diesesViertel einen Namen, als sich die vorwiegend schwarze Bevölkerung tagelang eine Straßenschlacht mit der Nationalgarde lieferte. 34 Personen starben, mehr als 1000 wurden verletzt.
Einer der Bewohner von Watts war der damals 21-jährige Charles Burnett, der hier den entscheidenden Umbruch in Amerikas Rassengesetzgebung erlebte: 1965 kam das gleiche Wahlrecht für Schwarze und Weiße. Drei Jahre später erklärte der Oberste Gerichtshof jede Diskriminierung auf Basis der Hautfarbe für verfassungswidrig. Zugleich machte sich die Black Panther Party für eine eigene afroamerikanische Gegenkultur stark.
In dieser politisch aufgeheizten Zeit drehten viele linke Filmemacher Manifeste. Charles Burnett, der am Filminstitut der UCLA studierte, zog hingegen los und filmte 1969 auf den sandigen Straßen seines Heimatbezirks Watts die gar nicht moralisierende, traumwandlerische Innenansicht einer afroamerikanischen Parallelgesellschaft: Several Friends (Kurzfilm, 22 min). Mit Burnetts Opus Magnum Killer of Sheep (1973/77) als Herzstück und seinem zweiten abendfüllenden Spielfilm My Brother’s Wedding (1983) bildet Several Friends eine Trilogie, die erst in der Zusammenschau als solche erkennbar wird. Denn was Sujet, Schauplatz, Darsteller und Stil anbelangt, sind die drei Arbeiten offensichtlich Verwandte ersten Grades. Aber auch im ganz wörtlichen Sinne sind sie familiär verbunden: Burnetts Bruder Andy ist einer der Hauptdarsteller in Several Friends, Angela Burnett, die Tochter des Regisseurs, spielt ein kleines Mädchen in Killer of Sheep und einen verliebten Teenager in My Brother’s Wedding. Diesen Film betreute wiederum Burnetts Ehefrau Gaie Shannon-Burnett als ausführende Produzentin und spielte darin die zickige Upper-Class-Braut des Bruders.
Eine Handlung im eigentlichen Sinn gibt es in den ersten beiden Filmen nicht. Vielmehr machen sie die positiven wie negativen Potentiale eines Lebens im „Getto“ von Watts spürbar. Burnetts Meisterschaft besteht darin, dies gleichermaßen über Ton und Bild zu vermitteln. Several Friends beginnt mit dem Geräusch einer bei schwarzer Leinwand zersplitternden Flasche. Erst dann kommt das Bild eines kleinen Mädchens im fluffigen Rüschenumhang,das zum betrunkenen Vater aufblickt. Scharfe Scherben treffen auf kindliche Weichheit; an dieses Einstiegsbild knüpft Burnetts zweites Watts-Porträt Killer of Sheep an. Der Titel birgt es schon in sich. Auch Killer of Sheep ist eine Geschichte von Weich und Hart. Bei noch schwarzer Leinwand eröffnen eine Frauen- und eine Kinderstimme den Film mit Paul Robesons Song Curly Headed Baby: „Lulla lulla lulla bye, bye / do you want the stars to play with / or the moon to run away with, / they come if you don’t cry.“ Dieses rührend schräg interpretierte Einschlaflied mündet in die Bilder eines Streits mit einer Ohrfeige. Liebe und Schmerz, Lachen und Tod – Burnett erfasst diese Gegensätze oft in einer einzigen Einstellung: Ein Junge legt im Spiel seinen Hals auf eine Eisenbahnschiene. Kinder bewerfen die eben liebevoll aufgehängte Wäsche mit Dreck. Noch auf der Schlachtrampe berühren einander die Schafe vertraulich mit den Nasen.
Die episodische Handlung von Killer of Sheep ist um den Schlachthofarbeiter Stan (Henry G. Sanders) angeordnet. Stans Arbeit erhält die Familie, doch das Töten am Fließband zermürbt ihn seelisch. Er findet keinen Schlaf mehr, ist ruppig zu Sohn und Tochter und wehrt die sanften körperlichen Annäherungen seiner Frau ab.
Die Kamera fungiert hier als unabhängige Beobachterin. Sie haftet nicht mehr oder minder an einer der Figuren, sondern schweift frei auf der Suche nach emotionalen Intensitäten umher.
Im vielleicht schönsten Augenblick des Films hockt Burnetts kleine Tochter Angela mit ihren antennenartigen Zöpfen auf dem Boden. Der Plattenspieler spielt eine Soulnummer und das Mädchen singt ihre Puppe mit schmachtendem Blick an: „Our feelings won’t disappear!“ Genau darum geht es in Killer of Sheep: So lange man fühlt, ist die Hoffnung noch nicht verloren.
Und zur Not gibt es immer noch die rettende Musik: „This bitter earth, what fruit it bears“, singt Dina Washington, während Stan und seine Frau eng umschlungen tanzen. Zarte Flötentriller begleiten die dreckige Arbeit im Schlachthof. Die Musik ist immer zugleich in und außerhalb der Figuren, und meint man doch einmal eine extradiegetische Nummer zu hören, schnippt im Bild plötzlich jemand im Takt mit den Fingern.
Paradoxerweise war es gerade die Musik, die eine Video-bzw. DVD-Auswertung des Films bisher verhinderte: Burnett hatte für seinen vorwiegend selbst finanzierten Diplomfilm Killer of Sheep die Musikrechte nicht geklärt.
My Brother’s Wedding ähnelt Killer of Sheep stilistisch, ist aber mit britischen und deutschen Fernsehgeldern auf Farbe gedreht. Die schweifende, zwischen verschiedenen Figuren driftende Bewegung von Killer of Sheep ist einem losen Plot mit Hauptfigur gewichen. Everett Silas spielt Pierce, einen Dreißigjährigen, der sich noch nicht entschieden hat, was er vom Leben will. In der Wohnung und im Reinigungsbetrieb der Eltern trifft er mit den möglichen Rolemodels für eine Karriere in Watts zusammen: dem Bruder, der sich zum erfolgreichen Anwalt hochgearbeitet hat, und seinem besten Freund Soldier, der als Kleinkrimineller zumindest die Frauen beeindruckt.Burnett stellte diesen Film 1983 in großer Hast fertig. Der Hauptdarsteller war ihm mehrfach abgesprungen und zuletzt ganz aus dem Projekt ausgestiegen, um Priester zu werden. Auf Druck der Fernsehstationen lieferte Burnett einen Rohschnitt ab. Erst 2007 gelang es ihm, aus dem Material seinen um 35 Minuten gestrafften Director’s Cut anzufertigen. Beide Versionen sind auf der DVD entthalten.