Sonderheft 14, Oktober 2010
Michael Loebenstein
Die Leidenschaft des Historiographen
Über Peter Tscherkasskys Coming Attractions

Dass die Filmavantgarden der 1920er bis 1970er Jahre und die Frühzeit des Kinos – das sogenannte „Cinema of Attractions“ – eine implizite Nähe zueinander aufweisen gilt in der österreichischen Filmkultur mittlerweilen als Gemeinplatz. Mit verantwortlich dafür ist auch Peter Tscherkassky, der 2002 als Kurator (gemeinsam mit Gabriele Jutz) von „Das frühe Kino und die Avantgarde“ dazu einlud, das akademische Argument einer strukturellen Verwandschaft des ephemeren zum hehren Kino mit eigenen Augen zu überprüfen. Das Kino als Erlebnis- und Erkenntnisraum, in dem George Méliès, Edwin S. Porter und anonyme Aktualitätenfilmer auf Ernie Gehr und Ken Jacobs treffen als Ereignis. Eine im besten Sinne populäre Ent-Hierarchisierung der Filmgeschichte, wie sie in den 1920er und 1930er Jahren schon einmal da war als Ziel. Diachrone „Bohrungen“ durch das Bildergedächtnis des Kinos und die Ideengeschichte der Moderne als Methode.

Tscherkassky der Filmhistoriker (und Lehrer – durch seine Klassen an der Kunstuni Linz gingen KünstlerInnen wie Siegfried Fruhauf, Rainer Gamsjäger und Cherry Sunkist) ist von Tscherkassky dem Filmemacher nur schwer zu trennen. Beiden ist die Lust an der Überzeugung gemein; der Enthusiasmus, mit dem der Filmemacher seine eigenen Arbeiten erläutert und historisiert ist jedem vertraut, der seinen Screenings und Lectures einmal beigewohnt hat.

Dennoch ist es irreführend seine jüngste Arbeit, den 25-minütigen Found-Footage-Film Coming Attractions als akademisches Argument, as verfilmte These zu begreifen. Diese Fährte legt Tscherkassky selbst. Das „Attractions“ des Titels verweist auf Tom Gunnings Kategorisierung des Kinos vor Griffith als eines „Kinos der Attraktionen“, das die chronologische Entfaltung von Handlung, die Plausibilität des Raums und die „Vierte Wand“ zwischen Leinwand und Zuschauerraum in Frage stellt hin. Die Texttafeln, die die 11 Kapitel des Films trennen gleichen einer Schnitzeljagd durch die ersten drei Jahrzehnte der Filmgeschichte, variieren Zitate und Titel theoretischer Aufsätze und kanonischer Filme von den Gebrüdern Lumière bis Jean Cocteau. Bereitwillig weist der Filmemacher im Begleittext auf einen kanonischen Aufsatz Tom Gunnings, „An Unseen Energy Swallows Space“ hin, in dem der Autor auf ähnlich unheimliche Raumkonzeptionen in der (amerikanischen) Avantgarde und der Frühzeit des Kinos hinweist: die Kamera als „seltsamer Attraktor“, der den konventionellen Raum sprengt; Schauspiel als Schauwert und direkte Ansprache des Publikums.

All dies legt eine wörtliche Lesart nahe: Film demonstriert Filmtheorie; Avantgardefilm und early cinema sind einander gleich. Doch Tscherkassky, der Schelm hat Gunning, den Schelmen genau gelesen. Als „pseudomorph“ bezeichnet jener die eigene These, als einen „attraktiven Anschein von Verwandschaft, dazu angetan innere Brüche und Diskontinuitäten zu verbergen“ (1). Auch eine falsche Fährte? Mitnichten, vielmehr ein brilliantes rhetorisches Manöver um Gemeinsamkeiten zu propagieren, ohne in die Falle einer totalisierenden Geschichtsschreibung zu tappen, die Differenzen planiert und die Historizität einzelner Werke und künstlerischer Perioden ignoriert. Nicht zuletzt ist Gunnings Text eine Verneigung vor den Leidenschaften und Phantasien eines Historiographen der beides liebt – Michael Snow’s Wavelength und die "Phantom Rides" genannten Kamerafahrten des Jahrmarktskinos der Jahrhundertwende.

Ähnlich leidenschaftlich und pseudomorph verfährt der Filmemacher. Coming Attractions ist nicht allein ein selbstreflexiver, ein gelehrter Film: formal ist er die lustvolle und dabei immens lustige Demonstration jener ‚ecritùre cinematique’, an der Tscherkassky seit mehr als einem Jahrzehnt allein in der Dunkelkammer seines Arbeitsdomizils, der „manufraktur“ im ländlichen Niederösterreich arbeitet. Wie in der „Cinemascope-Trilogie“ (1997-2001) und Instructions for a Light and Sound Machine (2005) arbeitet er auch im neuen Film mit vorgefundenem Filmmaterial – in diesem Fall Original-Kameramaterial von Werbespots aus den 1980er Jahren – das mittels diverser Lichtquellen (Laserpointer, LED-Lampen sowie Zubehör aus dem Autohaus) neu kopiert, collagiert und zerstückelt wird.

Bisweilen – zum Beispiel im letzten Kapitel des Films– ist sein Verfahren vom herkömmlichen, harten Schnitt nicht mehr zu unterscheiden. In anderen Episoden wiederum zeigt sich die totale Souveränität des Künstlers, der buchstäblich mit Licht malt, entstehen geradezu skulpturale Mehrfachbelichtungen von betörender Schönheit. Tscherkassky versteht das Phänomen der Formwandlung, das dem Begriff der Pseudomorphose zugrunde liegt als Aushöhlung und als Besetzung einer leeren Stelle durch etwas Anderes. Der Blick eines Werbe-Models im Sportwagen trifft auf den mittels Vignette einkopierten berühmtesten Taxifahrer der Filmgeschichte; aus dem Off des Bildes regnet es in anderen Kapiteln Pflanzenfasern und Perforationslöcher auf die Protagonistinnen, verschluckt Gunnings „unsichtbare Energie“ nicht bloß Raum, sondern Gesichter.

Auch auf inhaltlicher Ebene schreibt Tscherkassky Gunnings Figur des Pseudomorphen als einer Appropriation konsequent fort. Sein Film setzt Early Cinema, die Avantgarden und den Werbefilm nicht eins, behauptet keine Teleologie oder – wie Peter Kubelkas aus ähnlichem Material hergestellter Dichtung und Wahrheit (1996-2003) – eine allgemein gültige anthropologische Konstante der Gesten und Handlungen. Vielmehr erkundet er – ganz Archäologe – Serien von Motiven und Bildern, im Bewusstsein seines eigenen Zugriffs als Autor, der Artefakte ausgräbt, Möglichkeiten auslotet, Aufstellungen erprobt.

Coming Attractions hat eine Leichtigkeit und Musikalität, die ihn noch einmal von Peter Tscherkasskys letzten Filmen absetzt. Das betrifft die akzentuierten und unglaublich variantenreich eingesetzte Bildgestaltung wie auch den von Dirk Schaefer gestalteten Ton, der immer wieder vom Synchronen ins Kontrapunktische wechselt um zuletzt so subtil zu werden, das man ihn nicht einmal mehr verschwinden hört. Durch den ganzen Film wirkt eine Freude am Komischen, Grotesken, ja Blöden, die manchmal hart am Kalauer vorbeischrammt, alternierend mit Sequenzen reiner Poesie. Den Wortspiele in den (liebevoll nostalgisch gestalteten) Titelvignetten, die Auswahl monumental bizarrer Ausgangsmaterialien (die Frau mit aufblasbarer Trockenhaube und Saxophon!) stehen in anderen Episoden ganz schlichte, feine Beobachtungen gegenüber; am wie ich finde Eindrücklichsten in jenen ‚dokumentarischen’ Serien, in denen Tscherkassky Leerläufe und Wiederholungen wieder und wieder ablaufen lässt, oder den versehentlichen Gesten des Kameramannes, die im Schneideraum ansonsten eliminiert werden als „purem Kino“ ein Denkmal setzt.

(1) zitiert nach Tom Gunning, „An Unseen Energy Swallows Space: The Space in Early Film and Its Relation to American Avant-Garde Film“, in: John L. Fell (Hg.), Film Before Griffith, Berkeley 1983, S. 355 [Übersetzung des Verfassers]



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