Stefan Grissemann
Das Ende der US-Nachkriegsfilmavantgarde – eine Todesanzeige
Adolfas Mekas (30.9.1925–31.5.2011)
George Landow aka Owen Land (1944–8.6.2011)
Robert Breer (30.9.1926–11.8.2011)
Jordan Belson (6.6.1926–6.9.2011)
George Kuchar (31.8.1942 –6.9.2011)
Die Liste der jüngst verstorbenen Filmemacher ist leider erstklassig besetzt, und es berührt seltsam, dass dabei gleich fünf amerikanische Künstler verloren gegangen sind, die an der Peripherie des Kinos arbeiteten, in jener schmalen Kampfzone also, in der seit jeher die eigentlichen, von der Industrie gut verborgenen Möglichkeiten des Mediums erforscht und ausgeweitet werden. Mit Robert Breer, George Landow und George Kuchar traten in den vergangenen Monaten drei hinterlistige Virtuosen der US-Avantgarde ab, mit Adolfas Mekas und Jordan Belson, der am selben Tag wie Kuchar starb, verstummten zudem zwei legendäre Eigenbrötler, deren Werk noch immer kaum ergründet erscheint.
Wenn man die je eigenen Methoden und Arbeitsfelder dieser fünf nun ineinander fügte, so ergäbe sich ein erstaunlich komplettes Bild der Laufbildavantgarde, wie sie in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Nordamerika florierte: eine Szene aus subversiven Trickfilmen und launischen Undergroundkomödien, aus abstrakten Wunderbildern und strukturalistischen Rätselspielen. Diese Filme entstanden mit äußerst geringen Etats und aus radikal persönlicher Perspektive, aber gerade das war eben zu beweisen: dass die neue Idee jederzeit blendender war als all das Geld, an dem sich der Mainstream bereicherte und zugleich schon wieder ausverkaufte. Die Gemeinsamkeiten sind, bei aller Diversität der Individualstile, augenfällig: Der bizarre Humor des George Landow etwa, den er mit Breer und Kuchar teilte, wurde auch in den sprachspielerischen Pseudonymen sichtbar, die er als Künstler gern verwendete – Owen Land war das geläufigste, Orphan Morphon und Apollo Jize zwei seltener genutzte. Landows surrealistische Arbeiten verschneiden Pop und Hochkultur, mischen die Jargons von Lehr- und Werbefilm mit den Banalitäten des Fernsehens und den Komplikationen des Strukturalismus. Landows bekanntestes Werk, Film in Which There Appear Edge Lettering, Sprocket Holes, Dirt Particles, Etc. (1966) ist in seiner Strenge und Konzentration auf das Material (ein kurzer Loop aus Einzelkadern, die nicht nur ein Filmfarbtest-Model, ein so genanntes china girl zeigen, sondern auch die Projektionslöcher und Filmstreifenbeschriftungen) nicht besonders charakteristisch für den späteren Formalironiker Owen Land.
Aber die Lust an der Abstraktion ist jene zweite Konstante, die zurück in die unmittelbaren Nachkriegsjahre führt: Zwei junge Maler nahmen in den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren den Faden auf, den die Pioniere des abstrakten Kinos – auch Viking Eggeling, Walter Ruttmann, Hans Richter kamen von der Malerei – in den Zwanzigerjahren gelegt hatten. Unter dem Eindruck der Filme Oskar Fischingers (und als Protegé des in Hollywood arbeitenden Trickveteranen) machte sich der Kunststudent Jordan Belson, gerade 21-jährig, in San Francisco an die Filmarbeit, stellte mit dem (heute als verloren geltenden) Film Transmutation seine erste abstrakte Arbeit her. Robert Breers filmisches Frühwerk, die Form Phases-Serie (1952–1954), entstand während der Jahre, die der Künstler in Paris verbrachte. Europäische Prägungen sind bei Belson und Breer somit von Anfang an präsent; im transatlantischen Austauschprozess wurden diese Filme stärker, sicherer.
Mehr als 30 abstrakte Farbfilme produzierte Belson in 60 Jahren, schuf „kosmologische“, molekulare Bildwelten und malerische Lichtspiele (etwa in Allures, 1961), und er blieb damit, auch auf eigenen Wunsch, am äußersten Rand des Kinos: Schon vor Jahrzehnten entzog er seine Filme den einschlägigen Vertriebskanälen, gab kaum noch Interviews und verweigerte jede Interpretation seines Werks. Seine Filme seien „Erfahrungen“, die man machen, nicht erklären müsse: visuelle Musik. Am Ende musste sich der Analogfilmforscher Belson, der fallweise auch special visual effects für Spielfilme wie Donald Cammells Demon Seed (1977) und Philip Kaufmans The Right Stuff (1983) anfertigte, den neuen Medien doch geschlagen geben: Mit einem 12-minütigen Video, dem Film Epilogue verabschiedete sich Belson 2005 von der Bilderphantasterei. Auf gut 40 Filme brachte es Robert Breer, und er entwickelte dabei einen ganz unverwechselbaren, hypernervösen Stil: die inszenierte Kollision von gegenständlichen Bildresten und geometrischen Objekten auf der akustischen Grundlage fragmentarischer Geräuschtonspuren. In Breers heiter-befremdlichen Filmen dreht und bewegt sich alles, unaufhörlich, die Dinge verwandeln und deformieren sich, mutieren schneller, als man schauen kann, unter dem Druck von 24 Bildwechseln in der Sekunde.
Aus dem alten Europa stammte Adolfas Mekas, selbst in der Emigration blieb er fest verwurzelt in seiner litauischen Heimat. Hans Richter, bei dem Adolfas Mekas, der um drei Jahre jüngere Bruder des berühmteren (und filmisch produktiveren) Jonas Mekas, gemeinsam mit diesem am New Yorker City College studierte, brachte ihnen vermutlich auch die Grundlagen des angewandten Dadaismus nahe, die Freiheit zu denken und zu filmen, wie man will. Ausgeschlossen war dabei nur eines: Langeweile. Die Mekas-Brüder, erst 1949 aus ihrer litauischen Heimat in die Vereinigten Staaten gekommen, veränderten die kulturelle Landschaft New Yorks schnell und beherzt: zuerst durch die Gründung einer entschieden auf die Avantgarde konzentrierten Zeitschrift namens Film Culture 1955, anschließend auch durch eigene Filmproduktionen, Jonas’ Tagebuchkino führte seinen Autor als melancholischen, aber rückhaltlosen Optimisten vor. Schwelgerisch waren die Mekas-Brüder, um hohe emotionale Intensität ging es ihnen stets: Auf Adolfas’ Debüt – die überbordend surreale, Nouvelle-Vague-hafte Slapstick-Beziehungskomödie Hallelujah the Hills (1963) – folgte, in brüderlicher Gemeinschaftsarbeit, das düstere Marinedrama The Brig (1964). Adolfas Mekas verfilmte danach Mark Twain (The Double-Barrelled Detective Story, 1965) und wandte sich Anfang der Siebzigerjahre kurz noch dem Dokumentarfilm zu, mit dem er 1972 in Going Home von Litauen träumte, wieder an der Seite seines Bruders, der aus der gemeinsamen Reise seinen berühmten Essayfilm Reminiscences of a Journey to Lithuania destillierte. Danach ließ Adolfas Mekas das Filmemachen sein (obwohl er in seinen letzten Jahren in der Toskana offenbar noch ein Porträt des 1600 wegen Ketzerei verbrannten italienischen Priesters und Freidenkers Giordano Bruno geplant hatte) und trat eine Lehrstelle in der neuen Filmabteilung des Bard College an, wo er in den fast dreieinhalb Jahrzehnten seiner Tätigkeit die Creme der US-Avantgarde unterrichten ließ – neben anderen: Ernie Gehr, Bruce Baillie, P. Adams Sitney, Paul Arthur und Ken Kelman.
Genuiner amerikanisch (und deutlich überdrehter) stellte sich die Kunst des George Kuchar dar, der ebenfalls in Komplizenschaft mit seinem Bruder ans Werk gegangen war: scheinbar low brow in seiner Hinwendung zum trivialen Melodram und nerdy bis zum Abwinken. Als Zwölfjährige begannen die Zwillinge Mike und George Kuchar, mit einer 8-mm-Kamera in der Bronx absurde Amateurspielfilme zu drehen: Schmalspurkino in jeder Hinsicht, aber tausendfach lustiger und erfindungsreicher als die dramatischen Movie-Klischees der Kostüm- und Pornostandards, die sie persiflierten. Titel wie The Wet Destruction of the Atlantic Empire, der Film, mit dem die Kuchar-Filmografie 1954 einsetzt, zeugen von der Stilsicherheit zweier frühreifer Groteskmeister. Als Betitelungsspezialisten erwiesen sich die Kuchar Brothers auch in den Jahren danach: Filme wie A Tub Named Desire (1960), I Was a Teenage Rumpot (1960) und Tootsies in Autumn (1963) signalisierten schon, ehe man sie gesehen hatte, worauf es da ankam – auf Sex, Alkohol und Tennessee Williams, auf B-Picture-Absurditäten und Rebellen, die nicht mehr wissen, was sie tun, auf die billigen Thrills und die simulierten Gefühle jener Broadway- und Hollywood-Meterware, die schon in den Fünfzigerjahren nicht mehr so richtig cool erschien.
Als die Kuchars Mitte der Sixties in die Starriege des neuen Undergroundkinos avancierten, arbeiteten sie bereits getrennt voneinander. Hold Me While I’m Naked wurde 1966 zu George Kuchars Greatest Hit – in einer delirierenden Viertelstunde schlitterte diese aberwitzige Studie der Gefühlswelten eines erotisch interessierten Filmemachers auf dem dünnen Eis des Melodrams zur Nerd-Comedy, entwickelt sich zum Loser-Sexfilm weiter, um bei der Regie-Selbstreflexion anzukommen, in einem Stil, der zu vulgär, quietschbunt und primitiv war, um nicht augenblicklich als hinterhältig klug und hochmodern erkannt zu werden. Ab 1971 unterrichtete George Kuchar am San Francisco Art Institute, wo er mit seinen Studenten, die als Laiendarsteller auftraten, munter weiter Filme drehte – zwar unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit, aber mit sichtbarer Freude an sämtlichen ausbeutbaren Genres zwischen Billighorror und Softpornografie. Er glaube an „ununterbrochene Turbulenzen, von Anfang bis zum Ende“, gab Kuchar 1975 auf die Frage nach seiner speziellen Ästhetik zu Protokoll. Einer seiner letzten Texte, geschrieben als Ankündigung eines Kurzfilms, in dem er noch einmal als Schauspieler zu sehen ist, Eliane Limas Leonora (2011), fasst das eigene ästhetische Programm in wohlgesetzten, völlig unübersetzbaren Worten noch einmal kurz: „A dark drama of sexual sorcery and crippled creatures in the throes of a primitive passion that defies decency! A shadowy work of naked fury that will plunge the viewer into a cesspool of sinister slime and shocking shame! Experience the excrement of Satanic savagery as it smears across the screen in a rage of voluminous vitriol!“ Kein Satzzeichen versinnbildlicht George Kuchars Kunst besser als das Ausrufezeichen.
Mit dem Abgang dieser Filmemacher scheint nun jedenfalls viel mehr zu Ende zu gehen als bloß fünf individuelle Künstlerbiografien, als die Karrieren einer Handvoll bedeutender Stilisten. Denn die Ergebnisse ihrer Bemühungen – Breers Verdichtungstricks und Belsons Lichtforschungsreisen ebenso wie Landows lakonischer Strukturalismus und Mekas’ Außenseiterporträts (und sogar Kuchars campy Melo-Stil, der noch am ehesten als leiser Reflex in manchen Filmen von John Waters und den Farrelly Brothers wahrnehmbar war) – blieben weitgehend isoliert. So sehr einzelne Arbeiten als Höhepunkte in der Geschichte des visionary film gefeiert und kanonisiert wurden, so folgenlos blieben ihre Vorgaben. Sie bildeten keine Schulen und fanden zu wenige Bewunderer, die sich zugetraut hätten, den Faden ihrerseits aufzunehmen und die Arbeit am nicht- oder gegennarrativen Kino fortzusetzen. Es ist kein Zufall, dass in den Nachrufen, die in den vergangenen Monaten zum Ableben der großen US-Avantgardisten erschienen, gerade die Beschreibungen der Stile und Methoden der Verstorbenen seltsam endgültig klangen, wie historische Kunstpraktiken, die man nun endgültig ad acta legen kann. Der Tod dieser fünf Künstler stellt unmissverständlich klar, wie sehr der Film als Medium formaler Investigation, als künstlerische Praxis jenseits schlichter Abbildfunktionen und Erzählkonventionen weiterhin gefährdet ist.