Sonderheft 16, Oktober 2011

Robert Weixlbaumer

Im Feuerschein

Jafar Panahi und Mojtaba Mirtahmasb loten in In film nist ihre verbliebene Freiheit als Filmemacher im Iran aus

Ein Morgen in Teheran, Mitte März 2011, Tag des Feuerfestes. Der Blick aus dem weitläufigen Apartment geht auf den Horizont der Stadt und auf die Hochhaustürme, die sie überragen. Jafar Panahi richtet sich in der Küchenecke ein und frühstückt ein Brötchen. Nachrichten-Check auf dem iPhone. Dann ein Knall, möglicherweise ein Schuss, aber das denkt man nur, weil gleich darauf eine Polizeisirene zu hören ist. Der Kontext bestimmt immer, welche Bedeutung das Gesehene oder Gehörte hat.

Formell scheint In film nist (This Is Not a Film) mit Geschick und bitterem Witz einem Urteil zu folgen, das über Panahi im Dezember 2010 verhängt wurde. Ein iranisches Gericht hatte ihn und seinen Regisseurkollegen Mohammad Rasoulof zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt und mit 20-jährigem Schreib- und Regieverbot belegt. Grund: „Propaganda gegen das System“, weil die beiden einen Film über die Unruhen nach der Wiederwahl des iranischen Präsidenten Mahmoud Ahmadinejad geplant hätten. In der Wohnung, in der Rasoulof und Panahi Anfang März 2010 verhaftet worden waren, spielt nun Panahis Film beinahe zur Gänze. Und auch in einem anderen Sinn setzt er fort, was dort begonnen worden war. Die Verhaftung der beiden, gemeinsam mit einem Dutzend anderer Personen, erfolgte bei einer Drehbuchlesung für Panahis nächsten Film über den Freiheitsdrang einer jungen Frau. Als das erste Drittel des Scripts gelesen war, wurde die Wohnung gestürmt: und „die Schwierigkeiten begannen“.

Wie sich die Arbeit als Filmemacher weiter verfolgen lässt, ohne das Regieverbot zu übertreten, ist die vordergründige Frage in diesem Film, der von sich sagt, dass er keiner ist. Das Inszenierungsverbot hat Panahi schon in einem offenen Brief, der bei der Berlinale 2011 verlesen wurde, explizit thematisiert, damals noch ohne die Lösung für das Dilemma in Aussicht zu stellen, die das Werk nun präsentiert.1 In film nist hat zwei Regisseure, einen offiziellen (Mojtaba Mirtahmasb) und einen inoffziellen (Panahi). Er erzählt dokumentarisch im Stil eines Homemovies, aber zugleich stellt sich spätestens im letzten Akt die Frage, ob es in der Inszenierung der Dokumentation nicht auch eine handfeste fiktionale Ebene gibt. Er ist Dokudrama, Skizze eines ungedrehten Spielfilms, absurde Komödie, Creature Feature mit Leguan und Dackel, Fanal der kommenden Revolution und die bittere Geschichte erlittenen Unrechts.

Panahis Verhaftung war offensichtlich die Antwort auf seine offene Parteinahme für die Reformkräfte der Grünen Protestbewegung, die im Gefolge der Präsidentschaftswahlen im Iran im Juni 2009 entstanden war. Schon im Juli war Panahi, der ja schon in den Jahren davor in Filmen wie The Circle, Crimson Gold oder Offside aus seiner kritischen Haltung gegenüber der herrschenden iranischen Gesellschaftspolitik kein Hehl gemacht hatte, bei einer Trauerkundgebung für ein prominentes Opfer der Proteste kurz festgenommen worden. International sichtbar hatte er sich im darauf folgenden September als Jurypräsident auf dem Filmfestival von Montreal mit Demonstranten gegen das iranische Regime solidarisiert und mit seinen Jurykollegen auf dem roten Teppich demonstrativ den grünen Schal der Protestbewegung getragen. Panahis dreimonatige Untersuchungshaft im Teheraner Evin-Gefängnis, die auf die Verhaftung im März 2010 folgte, sein dortiger Hungerstreik gegen die Bedingungen seiner Haft und die schließlich erfolgte erstinstanzliche Verurteilung im Dezember 2010 stehen im Zeichen einer Auseinandersetzung in der politischen Sphäre Irans, deren Ausgang nicht einfach vorherzusagen ist.2 Gegen das Urteil und die vorangegangene Haft hatten bekanntlich iranische Filmemacher ebenso protestiert wie eine Allianz von Festivals und internationalen Regisseuren. Rasoulofs Urteil und dessen Reiseverbot scheinen inzwischen aufgehoben, die Entscheidung in Panahis Fall ist offen – auch davon erzählt sein Film.

Ein Telefonat steht am Beginn des ersten Akts, ein Anruf bei Panahis (mit vergleichbaren Fällen viel beschäftigter) Anwältin Farideh Gheyrat, die ihrem Klienten keine Hoffnungen machen will, dass die Haftstrafe gegen ihn ganz aufgehoben werden könnte. Das zusätzliche zwanzigjährige Arbeitsverbot werde vielleicht fallengelassen, das Urteil vielleicht abgeschwächt – aber: „Die Haftstrafe ist sicher, da lassen die Sie nicht raus. Außer es gibt extremen Druck von innen.“

Das Medium ist hier, wie in anderen Szenen, das iPhone Panahis, es holt die Welt zurück in die Wohnung, die sich ohnehin nicht gänzlich abschotten lässt. Laut gestellt wird das Telefon zur Öffnung aus dem selbst gewählten Hausarrest, später ist es selbst Aufzeichnungsgerät, das im Schuss-Gegenschuss den (Ko-)Regisseur Mirtahmasb und seine Kamera sichtbar macht. „Wenn Friseure nichts zu tun haben, schneiden sie einander die Haare“, amüsiert sich Mirtahmasb über die gegenseitige Bespiegelung.

Mirtahmasb hatte ursprünglich die Idee, in einer Doku eine ganze Reihe von iranischen Regisseuren zu versammeln, die keine Filme mehr drehen können. Nun ist daraus, konzentriert auf Panahi, ein „Behind the scenes of Iranian filmmakers not making a film“ geworden, wie es einmal darin scherzhaft heißt – mit dem Effekt, dass dieser Nichtfilm zum virtuosen, immer weiter improvisierenden Spiel mit dem Kino und seinen Möglichkeiten wird. Panahi beginnt darin auch, das Filmprojekt zu rekonstruieren, dessen Lesung mit der Erstürmung der Wohnung im März 2010 unterbrochen wurde. Auf dem Teppich markiert er mit Klebeband den Grundriss eines Hauses, das der Schauplatz des Films sein sollte. In seinem Mittelpunkt steht Maryam, eine junge Frau, deren Familie nicht mit ihrer Studienentscheidung einverstanden ist. Als die Eltern auf eine Reise gehen, am letzten Tag, an dem sich Maryam noch an der Kunsthochschule ihrer Wahl einschreiben könnte, schließen sie die Tochter, die sich mit dem ihr zugedachten Schicksal nicht abfinden will, im Haus ein. Die Anschlüsse zur Wirklichkeit, auch der Panahis, liegen offen zutage.

Das Reenactment, das Panahi mit dem Drehbuch in der Hand beginnt, bricht er selbst bald ab: „Ich habe das Gefühl, dass das, was wir hier machen, auch eine Lüge ist“, sagt er sichtbar verzweifelt und lässt den Film in eine neue Richtung ausbrechen. Ein Ausschnitt aus Panahis Ayneh (The Mirror , 1997), flankiert von Werkzitaten aus Crimson Gold und The Circle , liefert gleich darauf ein prägnantes Bild seiner eigenen Lage. Die Szene, die Panahi interessiert, zeigt Mina, die Darstellerin des kleinen Mädchens, das in den Straßen von Teheran alleine seinen Weg nach Hause sucht. Es ist der Moment, in dem Mina im Bus aus der Rolle fällt, alles hinwirft und aus der veristischen Fiktion aussteigt. „Ich spiele nicht mehr!“, brüllt sie. „Ich will hier raus. Macht die Tür auf! Lasst mich raus!“ Ohne Begründung verlässt sie das Set von Panahis Film, der geistesgegenwärtig weiter dreht und in Ayneh seine Fiktion kurzerhand in der Wirklichkeit fortsetzt, ohne die produktive Frage je ganz aufzuheben, ob darin nicht auch eine doppelbödige Inszenierung steckt.

Raus wollen. Unangepasst bleiben. Sich selbst spielen. Fiktion und Dokument unauflösbar ineinander verschwimmen lassen: Was die (Kinder-)Filme der iranischen Neuen Welle auszeichnete, in denen schließlich auch Abbas Kiarostami in den 80er- und 90er-Jahren ein neues Bild des Iran für einheimische Zuschauer und fürs ausländische Festival- und Arthouse-Publikum erschaffen hat (auch Jafar Panahis parabelhaftes Kinderfilm-Debüt Der weiße Ballon entstand nach einem Drehbuch Kiarostamis), findet sich auch in In film nist wieder. Nur spielt nun Panahi selbst die Rolle des skeptischen, unangepassten Außenseiters. Und wie es scheint, behält er dabei selbst noch für jene, die auf seiner Seite sind, ein unberechenbares Moment.

Auch die großzügige, bürgerliche Wohnung Panahis ist ein Universum mit kaum ergründbarer Tiefe, allerdings mit beachtlichem komödiantischem Potenzial. Ein Leguan von bedrohlicher Größe streift frei durch die Zimmer und gern auch über den geduldigen Regisseur: Das Reptil gehört Panahis Tochter Igi und genießt offenbar einen Grad an äußerer Freiheit, der größer ist als der des Regisseurs. Ein anderer Gast wird Mickey sein, der Dackel der Nachbarin, den Panahi für kaum eine Minute als Tiersitter zu übernehmen bereit ist, dann fliegt der Kläffer wieder aus der Wohnung.

Während der Tag voranschreitet, gewinnt das Datum der Dreharbeiten mehr und mehr Bedeutung. Chaharshanbeh-suri, das Fest des Feuers, ist Teil eines Jahrtausende alten Brauchtums, viel älter als der Islam, zurückreichend in die Religion des Zoroastrismus. Die iranische Theokratie vermag die Feuer auf den Straßen und die daran geknüpften gemeinschaftlichen Rituale nicht aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, was das Fest, das am Dienstag beginnt und bis zum Morgen des letzten Mittwochs vor dem Neujahrsfest Nouruz dauert, auch zum manifesten Ausdruck für das vorhandene Widerstandspotenzial der iranischen Gesellschaft macht.

Einer der unausrottbaren Bräuche besteht darin, von Tür zu Tür zu gehen und Gaben einzusammeln. Ein bizarrer Zufall beschert Panahi am Ende des Films die Begegnung mit einem jungen Mann, der sich als Hausmeister von Wohnung zu Wohnung bewegt, um eine andere Art von Gabe, den Müll der Nachbarn, abzuholen. Was zuerst auch für den Zuschauer wie eine bedrohliche Bespitzelung aussieht, gewinnt wie so vieles in In film nist schnell eine neue Bedeutung. Der junge Mann ist Absolvent der Medienwissenschaften, Teil des arbeitslosen intellektuellen Prekariats, das im Iran nach einem Platz sucht – und er hatte Dienst in der Nacht, als Panahi verhaftet wurde. Er schließt den Kreis des Films und öffnet ihn zugleich noch einmal weit nach außen. Panahi folgt ihm, nun selbst wieder Kameramann, im Aufzug Etage für Etage auf dem Weg durchs Haus, er begegnet noch einmal Mickey, dem nervösen Dackel, und landet schließlich im Hof. Inzwischen ist es Abend geworden, auch vor dem Wohnhaus brennen Feuer auf der Straße, in die immer weiter Benzin gegossen wird, während im Hintergrund Feuerwerkskörper krachen. Es sind Szenen, die an einen Bürgerkrieg erinnern und die auch mindestens ein Teil der Feiernden als bewusst gesetztes Statement gegen das herrschende Regime versteht. In Asghar Farhadis Chaharshanbe-soori (Fireworks Wednesday , 2006) waren diese Bilder noch ein Spiegel für die innere Unruhe des Helden, der am Ende des Films unglücklich mit den Widersprüchen seiner Doppelmoral zurückbleibt. In Panahis und Mirtahmasbs Film sind es Zeichen, die zugleich auf etwas Älteres und auf etwas Kommendes verweisen. Als In film nist in Cannes Weltpremiere feierte, gab Mojtaba Mirtahmasb den Zuschauern im Saal vorab nur ein Zarathustra-Zitat mit auf dem Weg: „Um die Dunkelheit zu bekämpfen, braucht man kein Schwert, sondern eine Kerze.“

Inzwischen sind Monate vergangen, ohne dass sich die Frage von Panahis Verurteilung auf juristischer Ebene abschließend geklärt zu haben scheint. Offenbar hat sich die Führung dafür entschieden, den Fall in der Schwebe zu halten. Das Zeichen der harten Verurteilung bleibt – aber es ist, weil das Berufungsverfahren nicht abgeschlossen wird, nicht das letzte Wort. Ein Damoklesschwert über Panahis Haupt, der darunter, vorsichtig oder nicht, weiter arbeitet. Ein neuer Film über ein Minenräumkommando an der ehemaligen iranisch-irakischen Frontlinie ist offenbar in Vorbereitung. „Jeder“, sagt Abbas Kiarostami, nach Panahis Schicksal gefragt, „muss seinen eigenen Weg finden.“

1 www.berlinale.de/de/das_festival/festivalprofil/berlinale_themen/openletterpanahi.html

2 In der Diskussion, die das Premieren-Screening von In Film Nist im Mai 2011 in Cannes ergänzte, wies auch Serge Toubiana, Direktor der Cinémathèque Française, auf die zersplitterte Machtstruktur im Iran hin, in der auch die Causa Panahi zu sehen ist: „In reality, Iranian society is very complex. For a long time cinema has been associated with the education of children, without any political perspective. Today, cinema has become an element of resistance. Opposite us, there’s a Minister of Culture, a deputy Minister, a Head of Cinema. But above that, there’s power and justice and the police, and again above that there’s religious power. Today, there are differences and struggles between politics and religion.“ (www.festival-cannes.fr/en/theDailyArticle/58652.html)


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