Sonderheft 20, Oktober 2013

Bérénice Reynaud

„Den Mythos in der Wirklichkeit suchen“

Alain Guiraudie im Gespräch mit Bérénice Reynaud

Bérénice Reynaud: Wo haben Sie L’inconnu du lac gedreht?

Alain Guiraudie: In der Provence, am Sainte-Croix-See in der Nähe der Verdonschlucht. Ich wollte schon lange einen Krimi – einen Film noir in Farbe – drehen, der am Land spielt. Ich habe schon mehrere Film konzipiert und geschrieben, in denen es um eine Verfolgung geht, aber noch nie so einen Film gedreht. L’inconnu du lac entspricht allerdings nicht den Kriterien eines Film noir, einfach weil ich gar nicht vor hatte, einen Genrefilm zu drehen. Es geht darin vielmehr um Liebe und Begehren, nicht um die klassischen Inhalte des Thrillers.

In einem Interview haben Sie einmal Georges Bataille erwähnt.

Ich zitiere gerne einen Satz von Bataille, nämlich dass die Erotik die Bejahung des Lebens selbst noch im Tode sei.

Worin bestand also Ihr Projekt?

Ich wollte eine ganz bestimmte Geschichte erzählen, die es mir gestattete, so etwas Ähnliches wie einen großen Liebesfilm zu drehen, die Frage zu stellen, was für einen Wert Moral angesichts des Begehrens hat, eine Person in der Zwickmühle zwischen Begehren und Moral darstellen. Ich wollte absolut keine Person zeigen, die sich von einem Mord erregen lässt. Franck ist in einen Mann verliebt, und egal, was er über diesen Mann herausfindet, er liebt und begehrt ihn nach wie vor.

Ich habe oft gesagt, der Film wende sich gegen Le roi de l’évasion (2009); das stimmt jedoch nur bedingt. Ich wollte einfach wieder einmal einen Film drehen, der die Einheit von Ort, Zeit und Handlung inszeniert, mit einer sehr einfachen und leicht verständlichen Dramaturgie, Szenografie und Geografie. Gewisse Aspekte meiner früheren Filme haben mich nicht zufriedengestellt – vor allem in jenen Spielfilmen, bei denen die Filmarchitektur immer mehr in den Vordergrund rückte. Es ärgerte mich, dass ich die Architektur nicht wirklich in den Griff bekam, und zwar, weil ich sie mir nicht wirklich angeeignet hatte. Aus diesem Grund wollte ich wieder einen Film mit nur einem einzigen Schauplatz drehen, auf den ich mich konzentrieren und wo ich Personen nach Belieben agieren lassen konnte. Und zwar unter dem Aspekt des Begehrens, denn der interessiert mich sehr.

L’inconnu du lac nimmt gewisse Motive von Un vieux rêve qui bouge (2001) auf. Louis (Jean Ségani) erinnert an Henri, es gibt auch eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung. Allerdings sind die Schauplätze sehr verschieden – damals eine Fabrik, jetzt ein See mitten in der Natur –, aber die dramaturgische Logik ist dieselbe, vor allem was die Offszenen betrifft. Und es gibt auch noch andere Bezüge und Anklänge: Sowohl Louis und Jacques in Un vieux rêve qui bouge als auch Henri und Franck in L’inconnu du lac sprechen davon, dass sie miteinander ein Bier trinken oder essen gehen, aber man sieht sie nicht dabei.

Der ganze Film beruht auf dem Leitmotiv, nur einen einzigen Schauplatz zu verwenden, und daraus ergibt sich die Idee beziehungsweise die Notwendigkeit der Offszenen. Sie geht Hand in Hand mit dem Wunsch, einen Mythos zu schaffen. Es würde die Dinge trivialisieren und banalisieren, wenn man die Personen in ihren Wohnungen sähe. Wenn man hingegen alle diese Szenen im Off darstellt, kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren. In den beiden Filmen – man könnte sie auch noch mit Du soleil pour les gueux (2001) vergleichen – gehe ich auf ähnliche Weise mit dem Raum um, und zwar wie auf einer Theaterbühne. Die Menschen bewegen sich in der Filmarchitektur, sie kommen und stellen sich mittendrin auf (immer am selben Ort), so wie man auf einer Bühne auftritt. Ich habe dabei die griechische Tragödie vor Augen, sie hat mich immer sehr inspiriert. In der Zeit, als ich mich darauf vorbereitete, Filme zu drehen, und ich mich zu Tode langweilte, las ich Brecht und Tschechow. Der Aufbau ihrer Stücke hat mich immer sehr beeindruckt. Brechts Stücke haben epischen Atem, sogar auf einem Dorfplatz, in einem sehr kleinen Raum können Dinge von großer Tragweite entstehen.

Was fasziniert Sie an der griechischen Tragödie?

Sie verliert niemals den Mythos aus den Augen, und das bei einer großen Sparsamkeit der Mittel. Gigantische Schlachten werden erwähnt, aber sie finden im Off statt, der Chorführer oder ein Bote berichtet, was geschehen ist. Außerdem interessiert mich der melodramatische Aspekt. Die Tragödie zeigt uns Menschen, anhand deren sich die großen Menschheitsthemen abhandeln lassen, an denen wir zerbrechen, sie stellt uns auf dieselbe Ebene mit ihnen.

Der Chor tritt sowohl in der griechischen Tragödie als auch bei Brecht auf. Haben die Nebenfiguren in L’inconnu du lac – der Voyeur, die anderen Badegäste – auch diese Funktion?

In der griechischen Tragödie hat der Chor eine narrative Funktion, außerdem muss er die Dinge erklären. L’inconnu du lac hingegen beruht auf der Idee des Schwulentreffpunktes, der von Personen frequentiert wird, die an diesen Orten emblematisch sind. Ich habe nicht sehr weit gehen müssen, um sie zu finden. Diese Typen gibt es wirklich, ich bin ihnen begegnet, und wenn nicht, hat man mir von ihnen erzählt. Die Dreiecksbeziehung spielt in ihrem Leben eine wichtige Rolle.

Das bringt uns zu Un vieux rêve qui bouge zurück: Ursprünglich hatte ich den Film so geschnitten, dass hauptsächlich die Dreierbeziehung (zwischen Jacques, Donand und Louis) sichtbar wurde, das Spiel der Liebe, der Verführung, des Begehrens. Aber das hat mir nicht gefallen, denn auf diese Weise kamen die Parallelhandlungen zu kurz, die für mich keine Nebenhandlungen sind. Die anderen Personen sind wichtig; die Dreiecksbeziehung, das Spiel des Begehrens findet in allen Milieus auf der ganzen Welt statt. Das sogenannte abweichende Verhalten ist im Grunde kein abweichendes Verhalten … Ich habe diesen Film gemacht, um die Welt darzustellen, wie sie ist. Vielleicht nicht die „große“ Welt, sondern einen Mikrokosmos, anhand dessen ich der Wirklichkeit ins Gesicht blicke. Das Kino ist deshalb für mich so interessant, weil es gestattet, den Mythos in der Wirklichkeit zu suchen. Davor hatte ich etwas zu viel die Tendenz, den Mythos im Mythos, in der Fantasie zu suchen.

In all Ihren Filmen gibt es eine Spannung zwischen Phantasie und jenen Dingen, die stärker in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Vielleicht haben Sie in L’inconnu du lac ein nahezu wundersames Gleichgewicht gefunden.

Ich inszeniere immer wieder die Dynamik zwischen Wirklichkeit und Fantasie, bin aber nie ganz damit zufrieden. In Le roi de l’évasion habe ich meiner Meinung nach die Wirklichkeit nicht ausreichend herausgearbeitet – wobei ich eine greifbare, erkennbare, nahezu dokumentarische Wirklichkeit meine. Die großen Emotionen, das große Thema des Begehrens, unter dem wir leiden, und somit auch der Mythos, sind nicht deutlich sichtbar geworden. Damals habe ich mich nicht wirklich auf die Wirklichkeit eingelassen, und wahrscheinlich habe ich genau aus diesem Grund L’inconnu du lac gedreht. Um mich mehr auf das Wesentliche zu konzentrieren. Im nächsten Film kann ich etwas ganz anderes in Angriff nehmen, nämlich etwas, das im Zeichen des Traumes steht.

Im Kino offenbart sich die Wirklichkeit im Umgang mit dem Körper. Sie haben eine ganz spezielle Methode, mit Körpern umzugehen, angefangen beim Casting.

Ja, das Casting war etwas ganz Besonderes. Ich glaube, zum ersten Mal hat man Schauspielern von Anfang an gesagt, dass sie nackt spielen sollten, dass es sehr explizite Liebesszenen geben würde. Ich glaube, aus diesem Grund sind ziemlich viele Kandidaten gar nicht erschienen. Die Leute, die gekommen sind, wussten, worauf sie sich einließen. Trotzdem sind einige nicht mehr zu den Probeaufnahmen gekommen, nachdem sie das Drehbuch gelesen hatten.

Seitdem ich Spielfilme drehe, frage ich mich aus Finanzierungsgründen immer wieder: „Sollte ich einen bekannten Schauspieler engagieren?“ Bei L’inconnu du lac habe ich bald festgestellt, dass es keinen Sinn gehabt hätte, einen Schauspieler wie Albert Dupontel zu engagieren, obwohl ich das ursprünglich vorhatte; die Schauspieler sollten im Gegenteil nicht allzu bekannt sein.

Wie suchen Sie die Schauspieler aus?

Das ist ein ganz elementarer Prozess. Für gewöhnlich sehe ich die Figur auf unbestimmte, vage, aber letzten Endes doch sehr deutliche Weise vor mir. Was Franck oder Michel anbelangte habe ich die Schauspielerfotos betrachtet und gesagt, nehmen wir diesen oder jenen, der würde ganz gut passen. Die Besetzung Henris war schwieriger, von ihm hatte ich ein ganz deutliches Bild vor Augen. Ich dachte immer an den Schauspieler Patrick d’Assumçao, den ich mir auch für Le roi de l’évasion gewünscht hätte. Deshalb ist die Figur Henris ziemlich deutlich: Ich habe immer diesen Schauspieler vor mir gesehen.

Pierre Deladonchamps ist mehr oder weniger Franck, so wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Aber Christophe Paou entspricht gar nicht meinem ursprünglichen Bild von Michel. Ich hatte ihn mir älter vorgestellt, Anfang fünfzig, Franck hatte ich mir als Dreißigjährigen und Henri als fast Sechzigjährigen vorgestellt. Ursprünglich war der Altersunterschied zwischen den Personen viel größer, im Film spürt man den Altersunterschied zwischen Franck und Michel nicht mehr, man spürt vielmehr den zwischen den beiden und Henri.

Wenn man mit Schauspielern arbeitet, gibt es immer einen Punkt, wo man Kompromisse schließt. Ich versuche nicht, die Schauspieler in die Rolle zu zwingen, im Gegenteil, ich schätze es sehr, wenn ein Schauspieler mit seiner Erfahrung, seinem Gesicht, seinem Körper, seiner Stimme kommt und der Figur seinen Körper leiht, sie ergänzt und vervollständigt. So war es auch bei Christophe Paou. Obwohl ich mir Michel nicht wirklich so vorgestellt hatte, gefiel mir schließlich der kalifornische Surfertyp, dieser Magnum-Typ. Auf diese Weise bekommt die Figur Kontur.

Und ich verzichtete gern auf einen kleinen persönlichen Spleen: die Beziehung zwischen einem jungen und einem älteren Mann. Es gefiel mir, dass Franck und Michel ungefähr gleichaltrig waren, dass sie zwei hübsche Jungs waren. Es ist ja schon ein wenig zu meinem Markenzeichen geworden, nur mit beleibten, nicht gängig gut aussehenden Typen zu filmen. Ich sagte zu mir: „Von nun an verzichte ich nicht mehr auf hübsche Burschen.“

Das Casting von L’inconnu du lac gestaltete sich viel komplizierter als bei meinen früheren Filmen. Wir haben zu viert daran gearbeitet: Stéphane Batut, die Castingdirektorin, und die beiden künstlerischen Leiter Roy Genty und Laurent Lunetta. Selbst für Henri gab es eine sehr interessante Alternative. Ich hatte auch zwei Möglichkeiten für den Kommissar, ich hatte die Wahl zwischen zwei sehr unterschiedlichen, aber sehr interessanten Schauspielern. Ich glaube, das passierte mir zum ersten Mal. Im Übrigen darf man die Vorstellung, die man bereits im Kopf hat, nicht aufgeben.

Die Figur des Kommissars taucht in Ihren Filmen immer wieder auf. Der Kommissar in L’inconnu du lac erinnert mich an Porfirij aus Dostojewskis Schuld und Sühne.

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, aber das könnte hinkommen. Ich habe das Buch gelesen und den Film gesehen und bewundert – immer wieder. Das Buch und der Film haben meine Ästhetik sehr beeinflusst.

Dieser Kommissar (Jérôme Chappatte) nimmt sich kein Blatt vor den Mund, er spricht die moralischen Fragen an, von denen zuerst die Rede war. Irgendwann sagt er etwas sehr Grausames. „Ich verstehe euch Burschen nicht.“ Es ist offensichtlich, dass er aus einer anderen Welt kommt, er ist ein Hetero, oder zumindest glaubt er, dass er ein Hetero ist. „Ein Junge ist gestorben, aber euch scheint das egal zu sein, seine Sachen liegen noch immer am Strand, aber keiner von euch hat reagiert, stellt euch einmal vor, wie einsam dieser Junge wohl war.“ Das könnte man als Kritik an der Welt der Homosexuellen interpretieren, für mich klingt das aber vielmehr wie eine Bestätigung, dass man den Rest der Welt vergisst, wenn man begehrt. Der Kommissar hat die Funktion, das Wirklichkeitsprinzip zu verkörpern, dadurch erlangen die Offszenen wieder enorme Bedeutung.

Ich stelle diese (homosexuelle) Welt als etwas ganz Selbstverständliches dar, und deshalb brauche ich jemanden, der diese Selbstverständlichkeit infrage stellt. Der Kommissar hat ein wenig die Funktion eines Vermittlers. Er stellt die Fragen, die alle sich stellen – und die im Grunde gar nicht so blöd sind –, Fragen, die ich mir selbst stelle, obwohl ich diese Welt sehr gut kenne.

In diesem Film geht es in besonderer Weise um die Beziehung von Erotik und Todestrieb, in drei Szenen benutzen die Figuren dennoch kein Kondom. Warum?

Seit Aids gibt es eine sehr enge Verbindung von Liebe und Tod. Ich komme aus den 1980er-Jahren, auch in meinem Bekanntenkreis hat es Todesfälle gegeben, aber nicht so viele wie in San Francisco oder in der Generation davor, für die war Aids ein wahres Trauma. Aids hat enorme Bedeutung erlangt, die Liebesbeziehungen haben sich auf unerhörte Weise verändert, und das französische Kino hat davon erzählt. Ich habe Les nuits fauves (Cyril Collard, 1992) und Téchinés Les témoins (2007) gesehen – einen Film, der in den 1980er-Jahren angesiedelt ist und zwanzig Jahre später von dem Phänomen erzählt. Außerdem erinnere ich mich an Drôle de Félix (Olivier Ducastel und Jacques Martineau, 2000), in dem Sami Bouajila mit Philippe Garziano im Gebüsch verschwindet und mit einem Kondom wieder auftaucht. Er benutzt ein Kondom, das ist ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den beiden. Abgesehen davon habe ich keine besonders guten Filme zu dem Thema gesehen. Und in meinen Filmen ist das kein Thema. Meine Figuren verwenden ein Präservativ oder auch nicht, sie sprechen nicht darüber.

Seit Aids gibt es eine sehr enge Verbindung von Liebe und Tod. Ich komme aus den 1980er-Jahren, auch in meinem Bekanntenkreis hat es Todesfälle gegeben, aber nicht so viele wie in San Francisco oder in der Generation davor, für die war Aids ein wahres Trauma. Aids hat enorme Bedeutung erlangt, die Liebesbeziehungen haben sich auf unerhörte Weise verändert, und das französische Kino hat davon erzählt. Ich habe Les nuits fauves (Cyril Collard, 1992) und Téchinés Les témoins (2007) gesehen – einen Film, der in den 1980er-Jahren angesiedelt ist und zwanzig Jahre später von dem Phänomen erzählt. Außerdem erinnere ich mich an Drôle de Félix (Olivier Ducastel und Jacques Martineau, 2000), in dem Sami Bouajila mit Philippe Garziano im Gebüsch verschwindet und mit einem Kondom wieder auftaucht. Er benutzt ein Kondom, das ist ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den beiden. Abgesehen davon habe ich keine besonders guten Filme zu dem Thema gesehen. Und in meinen Filmen ist das kein Thema. Meine Figuren verwenden ein Präservativ oder auch nicht, sie sprechen nicht darüber.

Ich habe mir gesagt, dass man das Schweigen brechen muss. Ich würde sogar zugeben – obwohl das gefährlich ist, aber ich bin ja nicht der Gesundheitsminister –, dass der Film im Zeichen des romantischen Wunsches steht, mit dem anderen bis zum Äußersten zu gehen. Wenn man die Grenzen überschreitet, kümmert man sich nicht um das Risiko, das man eingeht. Oder man beschließt, wenigstens nicht daran zu denken.

Das ist ein nicht unumstrittener, aber sehr starker Aspekt des Films. Sie stellen Menschen dar, die ganz in ihrem Begehren aufgehen. Deshalb bin ich sehr beeindruckt von der Art und Weise, wie Sie den Voyeur zeigen, beziehungsweise von der Art und Weise, wie die anderen mit ihm umgehen.

Ich habe eine gewisse Sympathie für ihn. Beim Casting haben wir uns gefragt, wie wir ihn darstellen sollen. Man hätte sich nämlich auch über ihn lustig machen können. Aber wir sind zu dem Schluss gekommen, dass nicht er lächerlich sein soll, sondern dass seine Handlungen lustig sein sollen. Deshalb ist er am Anfang komisch, wird im Lauf der Geschichte aber immer berührender. Das haben wir beim Casting beschlossen.

Die Mordszene wird in einer Plansequenz gedreht; man sieht nichts Genaues – und das erinnert an Antonionis Blow-Up (1966).

Ja, diesen Film habe ich vor Kurzem wieder gesehen.

Auch in Ihrem Film gibt es ein ambivalentes Verhältnis zum Sichtbaren.

Zu Beginn hatte ich gar nicht vor, eine Plansequenz zu drehen. Ich wusste zu dem Zeitpunkt auch nicht, ob ich die technischen Mittel dafür zur Verfügung haben würde. Ich wusste auch nicht, ob der Schauspieler (Christophe Paou) kräftig genug war, die Szene durchzuhalten – im Wasser zu strampeln und ans Ufer zu schwimmen. Ich wusste nicht, ob man die Plansequenz verstehen würde. Ich hatte vielmehr vor, einen engeren Winkel zu verwenden, allerdings stets aus Francks Perspektive. Der Film beruht ja auf dieser Vermischung und auf dieser Zweideutigkeit: Ist es der subjektive Blick Francks oder der Blick des Regisseurs? Darüber haben wir während der Vorbereitung lange diskutiert. Schließlich habe ich mich dafür entschieden, die Zweideutigkeit der Perspektive beizubehalten, zu der auch die Plansequenz beiträgt.

Zuerst haben wir gedreht wie vorgesehen, doch dann haben wir beschlossen, eine Plansequenz zu versuchen. Um auf Nummer sicher zu gehen, habe ich jedoch auch einen Gegenschuss auf Franck gedreht. Ich bereite meine Dreharbeiten sehr gut vor, ich habe die Schnitte bereits im Kopf, ich schreibe meine Storyboards selbst – aber dann gibt es einen Augenblick, in dem die Intuition siegt, und ich habe mir gesagt, gut, es wird funktionieren. Und wenn nicht, hätte ich noch immer den Gegenschuss gehabt. Die endgültige Entscheidung fällt beim Schnitt. Wir stellten fest, dass die Szene hervorragend funktionierte und auch die notwendige Spannung besaß. Nun mussten wir allerdings entscheiden, in welchem Augenblick es mit der Plansequenz losging, damit sie nicht zu lang dauerte und der Zuseher sich nicht langweilte, und das war ziemlich harte Arbeit.

Ich habe mich oft gefragt, ob die Plansequenz auch verstanden wird. Mittlerweile bin ich davon überzeugt. Sie sind ja nicht die Einzige, die von der Zweideutigkeit des Blicks spricht. Hat man wirklich gesehen, was man gesehen hat? Aber genau dieser Zweifel macht die Sache interessant. Und außerdem, wer betrachtet die Szene, wir oder Franck? Beim Gegenschuss am Ende ist alles wieder klar, oder nicht?

In optischer Hinsicht ist das eine der schönsten Aufnahmen des Films, eine Hommage an die Schönheit des Schauplatzes.

Ja und nein. Im Grunde haben wir die Plansequenz nur deshalb gedreht und sie auch in den Film geschnitten, weil sie den Mord glaubhaft machte. Eine vierminütige Plansequenz erzeugt mehr Suspense als ein Schuss/Gegenschuss. Heutzutage ist man aufgrund der technischen Möglichkeit schon viel mehr an derartige Plansequenzen gewöhnt, trotzdem haben mich ziemlich viele Leute gefragt, wie ich das gemacht habe, sie staunen über die technische Meisterleistung.

Mich hat auch noch eine andere Reihe von Aufnahmen beeindruckt, und zwar die sich wiederholenden Plansequenzen am Parkplatz. Ist das immer dieselbe Kameraeinstellung?

Ja

Die Abfolge der Aufnahmen erzeugt einen Rhythmus. Außerdem stehen die Autos für die Personen. Sobald man ein Auto erkennt, weiß man, wer da ist.

Die Wiederholung ist sehr gut aufgenommen worden. Man erkennt die Wiederholung, denkt aber auch darüber nach, wie man sie überwinden könnte. Ich freue mich, dass es Ihnen gefällt – die Idee war, ein sehr abstraktes Bild zu zeigen, aufgrund dessen der Zuseher weiß, wer da ist und wer nicht. Und dass er zu raten beginnt.

Bei der ersten Aufnahme sieht man den Parkplatz und fragt sich: „Was soll das denn sein?“ Ursprünglich dauerten die Aufnahmen des Parkplatzes noch viel länger, ich wartete drei Minuten, bis Francks Auto kam. Das war unendlich lang. Aber ich wollte unbedingt eine lange Aufnahme, damit der Zuseher sich überlegt, wer da ist und wer im Gegensatz zum Vortag nicht da ist. Es ist eine spielerische Aufnahme, aber sie erzeugt sehr wohl Spannung, wahrscheinlich habe ich ihre Wirkung sogar unterschätzt, sie erinnert an Brian De Palma … oder an Hitchcock.

Auf diese Weise wird die Zeitdauer deutlich gemacht. Um wie viele Tage geht es?

Um zehn Tage. In den letzten zwei Tagen ist der Parkplatz allerdings nicht mehr zu sehen.

An Ihren Filmen beeindruckt mich außerdem, dass Sie sich immer für Körper entscheiden, die nicht dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, für Menschen aus der Arbeiterklasse. Sie zeigen dicke Menschen, vielleicht ist das eine Besessenheit oder ein Fetisch, aber Sie machen das außergewöhnlich gut. Im französischen Kino, im Kino ganz allgemein, stellt das einen Regelbruch dar. Man ist nicht gewohnt, solche Körper zu sehen. Auch aus diesem Grund ist Henri faszinierend.

Die Leute mögen Henri sehr. Die Menschen wollen auch solche Körper sehen, davon bin ich überzeugt. Ich habe aus meiner persönlichen Vorliebe ein politisches Anliegen gemacht. Seit den 1980er-Jahren werden dicke Menschen, Menschen, die nicht jung und urban sind, im Film so dargestellt, als wäre Sexualität, Homosexualität ohnehin und sogar Sinnlichkeit für sie tabu. Ich würde die Dicken gern wieder attraktiv machen, und da es sich dabei um eine persönliche Vorliebe handelt, verbinde ich das Angenehme mit dem Nützlichen.

Als Henri stirbt, sagt er: „Ich habe bekommen, was ich wollte.“ Er ist auf jeden Fall der einzige im Film, der bekommt, was er will. Michel bringt seine Liebhaber um, weil sie ihm nicht geben, was er will. Franck – Michel entzieht sich ihm immer wieder – will jedoch, wie Sie schon sagten – keinen Mörder als Liebhaber.

Für mich sind Franck, Michel und Henri drei Facetten ein und derselben Person, ein einziger Mann in unterschiedlichem Alter, mit drei verschiedenen Seiten. Des- halb habe ich Henri sehr ins Herz geschlossen. Ich habe einen wie ihn am Ufer eines Sees kennengelernt, an einem Treffpunkt für Schwule, er hielt sich jedoch ein wenig abseits; Henri ist einer wirklichen Person nachempfunden.

Sie zerstören ein weiteres Klischee der Homosexuellenkultur, einige Ihrer Figuren sind bisexuell

Man weiß nicht wirklich genau, wer Henri ist, vielleicht erzählt er Lügen. Aber an Henri hat mich vor allem interessiert, dass er von dem Wunsch beseelt ist, die Sexualität hinter sich zu lassen. Zu sehen, ob es außer dem Sex auch noch was anderes gibt – ob es nicht auch so etwas wie Liebe gibt.

Wie interpretieren Sie seinen Tod?

Es ist ein Selbstmord. Er hat genug, ist völlig am Ende.

Weil ihn seine Frau verlassen hat?

Nein, weil er nicht weiß, wie es weitergehen soll.

Weil er in Franck verliebt ist?

Er bringt sich nicht allein um, Michel hilft ihm dabei. Für manche ist das ein Opfer.

Für mich ist das wie bei Hitchcock, nur andersherum. Ihm wird klar, dass Michel vielleicht Franck umbringen wird. Er kann Franck nicht haben, also lässt er sich von Michel umbringen und wird so zu Franck. Sein Tod ist eine Warnung an ihn.

Okay.

Auch wenn ich Ihre Interpretation ernst nehme, sehe ich Henris Tod nicht als Akt der Verzweiflung, sondern vielmehr als große romantische Geste.

Sie haben recht. Obwohl das nicht unbedingt meine Absicht war. Sein Tod war etwas sehr Intuitives – ich habe mir genau dieses Ende für Henri vorgestellt. Bringt ein Mann sich aus Verzweiflung um? Mag sein, aber die romantische Variante ist mir lieber.


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