Sonderheft 20, Oktober 2013

Hans Scheugl

Die Filme von Otto Muehl

Zwischen Herbst 1963 und Mai 1971 produzierte Otto Muehl 86 Aktionen, die erste, verhinderte Aktion mitgerechnet.1Von der ersten realisierten Aktion an wurde fotografiert, von der vierten an auch gefilmt. Es entstanden neun kurze 8-mm- Filme, die wie die Fotos dazu dienten, die Aktionen zu dokumentieren. Öffentlich gezeigt wurden sie nicht. Zur Aufführung kamen hingegen die Filme von Kurt Kren, die dieser 1964 von mehreren Materialaktionen machte, und jene von Ernst Schmidt jr., die 1965 entstanden.

Muehl entwarf für jede Materialaktion, deren Titel jeweils eine thematische Vorgabe lieferten, ein bestimmtes Konzept und bereitete entsprechendes Material vor. Er hatte sehr genaue Vorstellungen, wie die Requisiten (Lebensmittel, Farbstaub, Schnüre, Rohre, Bücher, ein Koffer, ein Fahrrad etc.) eingesetzt werden sollten, und gab den bezahlten Akteuren gleich einem Regisseur entsprechende Anweisungen.

Die einzelnen Abläufe waren in ihrer bildhaften Wirkung ganz auf den Blickpunkt des Fotografen Ludwig Hoffenreich, der von der ersten Aktion an dabei war, ausgerichtet. Bei der Aktion Bodybuilding (1965), bei der ich für Ernst Schmidt jr. die Kamera abwechselnd mit ihm führte, war es in erster Linie Hoffenreich, der in inzwischen gewohnter Manier starken Einfluss auf die zeitlichen Abläufe nahm, indem er sie etwa stoppte oder eine Wiederholung verlangte, soweit dies möglich war. Sobald Muehl seine Ideen umgesetzt und das Material aufgebraucht hatte, war die Aktion unvermittelt zu Ende.

Es waren der Erfolg der Filme von Kren und Schmidt einerseits und die Unzufriedenheit mit deren „Zerstückelung“ seiner Arbeit andererseits, die Muehl veranlassten, ab dem Frühjahr 1967 selbst 16-mm-Filme zu produzieren. Muehl stand oft selbst vor der Kamera, bestimmend für die Filme war daher, was sich dort abspielte, auf die filmische Gestaltung nahm er bei den Aufnahmen wenig Einfluss. Die filmischen Mittel waren einfach eingesetzt: starre Kamera, Totale oder Großaufnahme, kein Ton. Schauplatz waren der von Muehl gemietete Keller in der Perinetgasse und die Wohnungen von Muehl, Brus und anderen.

Muehl legte sofort Wert darauf, seine Filme in eigenen Programmen zu zeigen. Die erste Vorführung dürfte jene von Grimuid und Wehrertüchtigung am 20. 10. 1967 im Art Center in der Hohenstaufengasse gewesen sein. Auf einem hektografierten Programmblatt schrieb Muehl (hier stark gekürzt), er hätte „nun den künst- lerfuß in fremdes land gesetzt, in die vitale vibrierende welt des films. vorher machten kurt kren und ernst schmidt filme über materialaktionen, das ist nun schon wieder jahre her. inzwischen ist OTTO MUEHL zum CINE MAGUS von wien geworden. vor starrer kamera enthüllt sich notstand im wohlstand. eigentlich ist es askese, die das gute ziert.“

Muehls behauptete Askese (wohl im Gegensatz zum filmischen Aufwand seiner Vorgänger) trifft gerade bei den frühen Filmen nicht zu. Grimuid und Wehrertüchtigung waren deutlich von Kren und Marc Adrian (schneller Schnitt) und Schmidt (Verwendung von Farbnegativen als Positiv) beeinflusst.

Anfangs ist der Kunstkontext, wenngleich ironisch gebrochen, noch am stärksten zu sehen. Ein Titel wie Michelangelo (1967) oder dass Muehls Hände in Kardinal, um die gleiche Zeit entstanden, gleich einem Bildhauer den Kopf eines jungen Mannes mittels Schnur, Farbe und Teig zu einer Skulptur formen, machen diesen Rückverweis deutlich.

Psycho-motorische Geräuschaktion, ebenfalls im Frühjahr 1967 entstanden, zeigt eine innere Gliederung und einen auf die Filmkamera zugeschnittenen Aktionismus. Die Kamera führte Peter C. Fluger, der schon für Schmidt gearbeitet hatte. Durch ihn wird das Bild beweglicher, es gibt Schwenks und Zooms, bleibt aber doch konventionell. Der Film besteht aus sechs Teilen, die jeder einen Titel erhielten. Schwechater recht hat er, ein erfolgreicher Werbespruch, diente Muehl zu einer Werbung anderer Art. Muehl und drei andere Männer sitzen auf einer Bank, zwischen den Schenkeln eine Bierflasche, die sie „masturbieren“, bis der Schaum herausquillt. Passacaglia in b zeigt dieselben Akteure bei einer spastischen Hüpferei; Body-Lyrik bietet Muehl ein Solo als exaltierter Bodybuilder; Gossip lässt vier Männer, die am Tisch sitzen, ihre Gesichter in Teig tauchen und sich dann „gefedert“ am Boden wälzen. Fingersalat und Häuptelsalat übersetzen sprachspielerisch ihre Titel in Bilder von Händen und Köpfen.

Die motorischen Bewegungen der Köpfe gleichen einem Entwurf zu Bruce Naumans Videoinstallation Anthro/Socio von 1992. Der Film endet mit einem Schwenk über die nun unbeweglichen Köpfe, was einen filmisch-theatralischen Abschluss darstellt. Ein solcher ist bei Muehl sonst eher selten. Er definierte zwar stets den Ausgangspunkt einer Aktion, ließ diese aber dann meist irgendwie auslaufen bzw. abbrechen.

Durchkomponierte „Handlungsbögen“ mit einer präzisen Zeitstruktur finden sich hingegen bei Brus, was sich in den Muehl-Filmen niederschlägt, an denen Brus beteiligt war. Der Vergleich mit Naumans technisch perfekter und darum auch so wirkungsvoller Arbeit macht deutlich, wie wenig sich Muehl im Gegensatz dazu um ein (filmisches) Endergebnis kümmerte und wie stark er auf das Ausleben und Erleben von Affekten im Agieren aus war und welchen Raum er dem Zufall gab. Da Muehls Filme fast alle ohne Ton gedreht wurden, fehlt der sprachliche Aspekt, der in Titeln wie Schwechater recht hat er oder Häuptelsalat anklingt. Der Alltagskultur, die in Muehls Aktionen in Form von Gegenständen, Markenartikeln und Werbung als Material Verwendung findet, entsprach auf einer Tonebene am besten Ernst Schmidt jr. in seinen Muehl-Filmen, besonders in Bodybuilding (1965/66), wenn er Radiosendungen, Volksmusik und Jandl-Texte auf die gleiche Art collagierte wie Muehl sein Material. Lediglich wenn bei Muehl ein Originalton dazukam, wie etwa bei Manopsychotisches Ballett 2 und Investmentfonds, beide 1970, stellt sich wie bei Schmidt sprachlich eine Äquivalenz zum Bild ein.

Sofern Muehls Filme nicht stumm blieben, wurden sie im Nachhinein mit einem Ton versehen. Bei Psycho-motorische Geräuschaktion und Wehrertüchtigung wurde von den Akteuren eine Art Geräuschmusik erzeugt. Als dann die Filme in Deutsch- land verliehen und zu einem Programm (Sodoma) zusammengestellt wurden, bekamen sie einen Klangteppich aus Free Jazz und klassischer Musik, der sie zu jener Hochkultur zurückführte, von der sich Muehl zu Beginn verabschiedet hatte. Das wohl deshalb, weil der über die Musik erhobene Kunstanspruch als Schutz vor einer Öffentlichkeit dienen sollte, die nach der Aktion Kunst und Revolution (1968) an der Wiener Universität und angesichts immer radikalerer Aktionen Muehls von den Medien in Österreich wie in Deutschland skandalisiert worden war und den Aktionisten jedes Künstlertum ab- und Psychiatrie und Gefängnis zusprach.

Die Filme Amore, Fountain und Satisfaction, alle von 1968, gehören zu einer Phase, die sich formal Andy Warhol verdankte und Muehls früher geäußertem Wunsch nach Askese am besten entsprach. Warhols Filme waren zu dieser Zeit in Wien noch nicht zu sehen, eine Vermittlerfunktion nahm für Brus und Muehl mein Film Wien 17, Schumanngasse von 1967 ein. Sie wurden in einer Einstellung gedreht und die Aktionen rollten in einem entsprechend langsamen Rhythmus ab, wofür Brus, der an den Filmen beteiligt war und in dessen Wohnung sie entstanden, wie bereits erwähnt ein gutes Sensorium hatte.

Wenn es einen Muehl-Film gibt, den man als witzig bezeichnen kann, dann ist es Fountain. Diese Wirkung stellt sich ein angesichts der Ernsthaftigkeit, mit der Erwachsene gleich Kindern das Alphabet der Sexualität zu deklinieren beginnen. In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Tisch, um den sich Muehl, Günter und Anna Brus und später auch Kurt Kren nackt gruppieren. Die zu Kindern regredierten Männer werden beim „Vogerlherzeigen“ zu einer lebenden Skulptur und spielen anschließend „Springbrunnen“ (daher auch der Filmtitel). Muehl legt sich auf den Tisch und alle anderen legen sich übereinander auf ihn. Das alles geschieht sehr beiläufig, mit der Zigarette in der Hand, was in seiner Coolness witzig und in seiner Einfachheit spontan wirkt, auch wenn die Abläufe vorher ausgemacht wurden. Die Kamera ist der Bezugspunkt des Ganzen und erzeugt als stiller und scheinbar ignorierter Beobachter eine innere Spannung. Als Ton hört man ein Brunzgeräusch (in einen Kübel?) und Musik.2 Kren machte die Sache offensichtlich Spaß. Er betonte in einem Gespräch, das ich für einen Dokumentarfilm über ihn mit ihm führte, die „befreiende“ Wirkung, die die Muehl-Aktionen für ihn hatten.

Die Absicht, die noch gesellschaftlich tabuisierte Sexualität in den Alltag zu holen, zeigt auch ein achtminütiger Film, der zur gleichen Zeit entstand, aber nie aufgeführt wurde und nicht einmal einen Titel bekam, weil er stark unterbelichtet war. Das gleiche Zimmer, der gleiche Tisch und die gleichen Akteure, mit Ausnahme von Kren. Es tauchen Rudolf Schwarzkogler und andere Personen auf, die nicht zu erkennen sind. Muehl steht bei der Glastüre, die auf den Balkon hinaus- führt, und wird von einer Frau masturbiert, während er gleichgültig hinaussieht und raucht. Schwarzkogler und Brus umarmen sich mit „Leidenschaft“, während eine Frau ein Baby wickelt und Leute hin und her gehen. Ein dicklicher älterer Mann, der bei Muehl meist die Rolle des Voyeurs einnimmt – in Amore steht er im Wintermantel am Balkon und sieht durch die Glasscheibe zu, wie drinnen ein Masochist gepeitscht wird –, liest unbeteiligt in einer Zeitschrift.

Satisfaction, ebenfalls im Frühjahr 1968 entstanden, besteht aus den Teilen Simultanaktion, Günter Brus bittet um Ruhe! und Alles Gute zum Muttertag wünscht Ihr Otto Muehl. Auch hier sind die Aktionen, bei denen es um die Mechanik von Körper, Sexualität und Ausscheidung geht, wie bisher bewegte Tableaus; im letzten Teil bekommt die Gruppe durch den knienden Schwarzkogler eine sakrale und damit blasphemische Bedeutung.

Im Herbst 1968 entstand Libi 68. Dieser Film bietet eine Mischung aus Muehls bisherigen Stilmerkmalen. Es finden sich Gruppierungen nackter Körper als Tableaus, Körperteile als Stillleben in der Art der Materialaktionen und diverse sexuelle Aktivitäten in Großaufnahme. Das alles wird in einem unklaren Rhythmus rasch geschnitten und mehrfach wiederholt.

Im selben Maß, wie sich Muehls Aktionen ab 1969 radikalisierten (Scheißkerl, Apollo 11, Oh Sensibility), nahm die gestalterische Arbeit an den Filmen selbst ab. Eine Ausnahme bildet Mano-Test von Ende 1970, weil dieser Film sich über die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Aktion Kunst und Revolution an der Wiener Universität aus der Distanz von zwei Jahren lustig machte und auf frühere formale Techniken zurückgriff.

Manopsychotisches Ballett 2 ist ein Beispiel für Muehls späte Aktionen in Deutschland. Die Aktion fand am 8. November 1970 bei der Veranstaltung Happening und Fluxus im Kölner Kunstverein statt. Muehl nutzte die Anwesenheit der Cellistin Charlotte Moorman, die u. a. mit Nam June Paik zusammengearbeitet hatte, dazu, sie seine Aktion live mit ihrer Eintonmusik begleiten zu lassen. Der Charakteristik seines öffentlichen Aktionismus blieb er jedoch treu: ein langsamer Anfang, der dann einem „orgiastischen“ Höhepunkt zusteuert. Wie Brus bei seinen letzten Aktionen überließ Muehl bei dieser Aktion die Herstellung des Films einem quasiprofessionellen Produzenten, der für Kamera, Schnitt und sogar Koregie verantwortlich zeichnete. Hieß der bei Brus Hans-Christof Stenzel, ist es hier Jörg Siegert. Während er dem Stil von Muehls Filmen im Großen und Ganzen treu blieb, ist es sicher ihm zu verdanken, dass auch die mediale Aufbereitung, nämlich die Kameraund Tonleute, die nackt und geschäftig neue Blickwinkel auf das Geschehen suchen, und Zuschauer, die gegen die Schlachtung und Zerstückelung von Federvieh protestieren, zu sehen ist. Ein drastisches, im Nachhinein dem Film hinzugefügtes Ende zielt auf eine Verhöhnung des Publikums ab. Wessen Idee das war, ist nicht mehr zu eruieren.


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