Dennis Vetter
Über Andreas Prochaskas Western-Aneignung Das finstere Tal
Genre, ein Begriff, der das Resultat von Dialogen ist: filmhistorischen Dialogen, Publikums - dialogen, ästhetischen Dialogen, industriellen Dialogen, kulturellen Dialogen. Weil das Genre - kino ein Kino des Wechselspiels von Wiederholung und Variation ist, sind seine Versatzstücke, seine Grammatik, Teil unseres medialen Gedächtnisses: zum Beispiel wenn die Kamera eines Westerns sich in ein Duell auf Leben und Tod begibt und die Blicke erbitterter Widersacher einfängt. Ein Genre adressiert und verarbeitet unsere Kinoerfahrung, es gibt uns als filmische „Währung“ das Gefühl einer Vertrautheit mit wiedererkennbaren Traditionslinien. Es reproduziert und verhandelt sich selbst und damit unsere Erwartungshaltungen. Die Evolution einer globalisierten, transnationalen Filmsprache in Bezug auf die Bandbreite filmischer Ausdrucksformen wird am Genrekino ablesbar.
Transnationale Dialoge finden sich, im ganz wörtlichen Sinne, in Andreas Prochaskas Das finstere Tal. Der Western spricht hier Österreichisch, im Falle des Protagonisten Greider (Sam Riley) gebrochenes Deutsch mit US-amerikanischem Akzent. Gesprochen wird aber, ganz westerntypisch, nicht übermäßig viel. Denn auch die Blicke erzählen, die Umgebung, die Geräusche. Die texanische Landschaft wird jedoch gegen die Alpen eingetauscht, steile Klippen versperren die Sicht. Nur selten ragt der Himmel ins Bild. Die Hitze der Wüste weicht der Kälte des Winters, Schnee knirscht unter den Stiefeln. Farbe gibt es selten, Feuer und Blut sind die markantesten Töne. Die Nacht dominiert. Spätwestern wie Leichen pflastern seinen Weg (Il grande silenzio, 1968) und Django (1966) sind hier entfernte Verwandte. Wenn die grausamen Traditionen und die Vergangenheit des unbenannten Dorfes im titelgebenden Tal erkundet werden, ist vom utopischen Potenzial der amerikanischen Kolonisierung, der Reise nach Westen, nichts zu spüren. Im finsteren Tal herrscht stattdessen Stillstand. Im Winter verlässt niemand das Gebirge. Und weil weglaufen nicht möglich ist, schleicht sich statt Dynamik zunächst ein bedrückendes Drama ein. Das finstere Tal ist ein ungemein spannendes Mischwesen.
Prochaska versucht, entsprechend der Romanvorlage von Thomas Willmann die Inten - sität der Figuren und der Landschaft in ein ebenso ausdrucksstarkes Rachespektakel zu übersetzen. Zunächst noch mit Ambivalenzen hinsichtlich der Absichten des Protagonisten gespickt, dann mit dem Holzhammer. Wir sind also doch in einem Western, oder wollen es sein. Die Inszenierung wird nicht müde, sich dessen zu versichern. Dieser Gestus demontiert das Geschehen, vieles wird Abziehbild. Hochstilisierte Figuren entwirft der Film punktuell schon früh, allen voran Greider, dessen Psychologie und Coolness in den vielen großen Blicken und Gesten, die die Kamera von Riley will, zu keiner Einheit werden. Es entsteht eine Filmwelt, in der die Dorfbewohner mit ihren Abgründen, Empfindsamkeiten und markanten Gesichtern unter den Regeln einer Genremotivik ächzen und niedergebügelt werden. Mit großen Augen blicken sie ihren Helden an, der als Antiheld nicht funktioniert, und lassen sich neben ihm zu fremdbestimmten Statisten machen. Die Geschichte ist in ihrer starren und bald vorhersehbaren Struktur nicht minder diktatorisch als die Familie des Brenner-Bauern, die im Dorf seit Generationen ein unbarmherziges Patriarchat aufrechterhält. Und bald, wenn alle Konflikte evident sind, wird auch diese zur Kulisse verdammt, für eine Inszenierung, die permanentes Staunen einfordern will, sich dabei verkünstelt anfühlt und konstruiert. Nur die Rückblende bleibt als Ausweg.
Wenn die Aufarbeitung einer US-Genreform ein Selbstzweck wird, ist das im deutsch - sprachigen Raum zunächst nachvollziehbar. Der Genrefilm, mit all seinen filmhistorischen und filmästhetischen Qualitäten als Plattform der Bedeutungsverhandlung, ist hier ein zu seltener Gast. Was Das finstere Tal an großem Potenzial birgt und in Ansätzen auch freilegt, ist die Kollision einer regionalen Mentalität mit der ästhetischen und kulturellen Tradition des Westerns: die Schaffung eines filmkulturellen Experiments. Das Resultat verspielt jedoch seine Originalität. Natürlich will Prochaska unterhalten. Doch sein Film verfängt sich in den Strategien des US-dominierten, transnationalen Illusionskinos. Lokalkolorit wird in der globalisierten Filmsprache gerne seiner Kantigkeit beraubt und zur Kulisse, zur Nuance inner - halb doch immer gleicher Erzähl- und Deutungsmuster. Ziel ist nicht, spezifisch zu sein, sondern wiedererkennbar, universell. Das Resultat ist nicht selten Anonymität und Austausch barkeit. In Zitat und Adaption entfremdet sich Das finstere Tal von seinem Charme und seinen vielversprechenden Figuren.
Dennoch: Andreas Prochaska, der neben seinen Kinoarbeiten auch zahlreiche Fernseh - produktionen und Serien inszeniert hat, ist es hoch anzurechnen, dass er diesen Versuch einer Genreaneignung wagt – insbesondere ohne ironische Brüche. Für In 3 Tagen bist du tot arbeitete er bereits erfolgreich den US-Teenie-Slasher auf. Prochaska war auch als Cutter bei Hanekes Funny Games involviert. In seinen Ansätzen ist er alles andere als uninteressant. Insbesondere seine Fernsehfilme stechen hervor. Während im vorliegenden Fall das Lokale ins Genrekonstrukt eingeschleust wird, verorten die Fernsehfilme das Fiktionale im Lokalen, inmitten der österreichischen Gegenwart. Der erste Tag (2008) konstruiert eine Atomkatastrophe in Dukovany, in unmittelbarer Nähe von Wien. Vermisst – Alexandra Walch, 17 (2011) schildert eine Kindesentführung. Das Wunder von Kärnten (2011) thematisiert gleichermaßen authen tische Geschichte und Fabel.
Vielleicht ist die Entblößung der Form und der Stereotype des Unterhaltungskinos das größte Potenzial der kulturellen Aneignung des Genrefilms. Michael Herbig lieferte hierzu in Deutschland gelungene Beiträge und zeigte durch Humor subversive Perspektiven auf. Genre ist ein Dialogfeld zur Dominanz ökonomisierter Ausdrucksweisen im Weltkino. Die Entscheidung eines Filmemachers, diese Ausdrucksweisen zu reproduzieren, statt sie zu hinterfragen, ist an sich problematisch. Und doch birgt das Genrekino stets eine Perspektive der Kritik. Es ist das Spielfeld eines Kults der Zerstreuung, birgt Antithesen zu elitärem Kunstverständnis, zu bürgerlichem Geschmack. Genre ist gleichermaßen industrielle Plattform und Nische. Horror und Splatter waren stets Aufarbeitungen des gesellschaftlichen Unterbewusstseins. Science-Fiction verdichtet Befindlichkeiten der Gegenwart. Der Western thematisiert als archetypisches Phänomen des US-Kinos den American Dream. Er ist Sinnbild für das Eindringen von Fiktion in Geschichte und Lebensrealität, ein Sinnbild für Verklärung – und für die Umdeutung dieser Verklärung im Spätwestern.
Das Genrekino kann die Suche nach Wahrheit im Künstlichen formulieren. Diese Suche anzuregen, ernsthaft, ironisch, intertextuell, und innerhalb großer Gesten nicht das Gesicht zu verlieren, ist seine Forderung an Filmschaffende. Auch das Publikum darf darum bitten.