Sonderheft 22, Oktober 2014

Zur Lage der Filmkritik

Ein Gespräch zwischen Stefan Grissemann (SG), Barbara Pichler (BP), Isabella Reicher (IR), Ruth Sonderegger (RS) und Alexandra Zawia (AZ) Moderation: Vrääth Öhner (VÖ)

: Vielen Dank, dass ihr so bereitwillig der Einladung gefolgt seid, mit uns über etwas zu sprechen, das man als „Krise der Filmkritik“ bzw. neutraler als Frage nach der „Lage der Filmkritik heute“ bezeichnen könnte. Dass diese Lage krisenhafte Tendenzen aufweist, wird nicht zuletzt durch Manifeste deutlich wie das im Mai 2014 in Oberhausen formulierte „Flugblatt für aktivistische Filmkritik“, das sich gegen den Missbrauch der Filmkritik als Dienstleistung zur Wehr setzt. Die dort konstatierte Krise scheint auf zumindest zwei Ebenen zu bestehen. Einerseits auf der Ebene des Gegenstandes: Der Kritik scheint der Gegenstand abhandenzukommen, in dem Sinn, dass ganz viele Filme, die produziert werden, keine Kritik mehr nötig haben. Andererseits auf der Ebene medialer Verbreitung: Filme, die sich als Teil der Filmkultur verstehen und auf Kritik angewiesen sind, laufen nicht mehr an Orten, über die noch geschrieben werden kann, d. h. im regulären Kinoprogramm. Vor diesem Hintergrund möchte ich euch bitten, in einer ersten Runde zunächst einmal aus der eigenen Perspektive zu beschreiben, wie denn die Lage der Filmkritik gegenwärtig aussieht.

SG: Ich bin bei der Behauptung hängen geblieben, dass Filme keine Kritik mehr nötig haben. Ich glaube, das gibt es gar nicht. Jeder Film hat Kritik nötig insofern, als er erst über die Kritik in einen Diskurs kommt, der diesen Begriff auch verdient. Irgendjemand hat einmal geschrieben, dass „erst die Kritik aus Kunst Kunstgeschichte macht“, d. h., erst über die Kritik werden einzelne Werke in die Kulturgeschichte überhaupt eingespeist. Grundsätzlich glaube ich, dass die Sorge um die Filmkritik natürlich berechtigt ist. Aber es ist ja nicht die Filmkritik allein, die in der Krise steckt, sondern die Medien stecken in der Krise, vor allem die Printmedien, in denen seriöse Filmkritik noch immer hauptsächlich erscheint. Es gibt natürlich tolle Blogs und Kino-Internetportale, aber die traditionelle, seriöse Filmkritik war lange Zeit auf Printmedien angewiesen. Dort ist die Filmkritik in Gefahr, aber auch die Filmkultur insgesamt: Der Spielraum der Programmkinos verengt sich immer mehr, die Entwicklung geht immer mehr in Richtung Festivals, die fünf, sieben oder zwölf Tage lang den Durchlauferhitzer für relevante Filme spielen. Die Filmkritik begleitet das meist sehr konzentriert, aber dann ist wieder lange Ebbe – und man bespricht vorrangig Tom-Cruise-Filme.

RS: Da ich keine Filmkritikerin bin, sage ich vielleicht einmal, was mich an der jetzigen Situation interessiert. Und zwar einerseits, dass man ja grundsätzlich von einer „Krise der Kritik“ spricht, spätestens seit Boltanski und Chiapello, die mit ihrer Analyse von Managerliteratur eindringlich gezeigt haben, inwiefern kritische Verhaltens- und Schreibweisen ganz leicht einverleibt werden können. Das hat seit den 1990er-Jahren zu einem Kritikbashing geführt, das ich ebenso problematisch finde wie z. B. das Bashing der Kritischen Theorie nach 68. Deswegen ist die angebliche Krise der Filmkritik für mich Teil eines größeren Phänomens. Ich selber komme eher aus den Kunst- und Kulturwissenschaften, und in der Kunstkritik, in der Kritik der bildenden Kunst, die man von Film- und Videoproduktion überhaupt nicht mehr trennen kann, hat man genau dieselben Diskurse. Wobei da schon seit den 80er-, 90er-Jahren über die Dienstleistungsproblematik gesprochen wird und eine bestimmte Form der Institutionskritik schon darauf reagiert. Mich würde interessieren, inwiefern sich das vom Filmbereich unterscheidet. Diese Woche gab es zum Beispiel eine sehr tolle Veranstaltung im Rahmen der „Wienwoche“ zur Lage der Architektur in Österreich, und da wurde genau dasselbe über die Lage der Architekturkritik gesagt. Was mich immer wundert angesichts dieser Krisenhaftigkeit: Warum wird nicht viel mehr über die historischen, politischen und theoretischen Hintergründe geschrieben? Warum nicht viel mehr über Produktionsbedingungen? Ich höre von Produzent(inn)en, von Filmemacher(inne)n, wie schwierig das alles ist, aber es gibt wenig theoretischen Diskurs darüber.

BP: Ich hake da vielleicht gleich ein. In einer privaten Diskussion zum Thema habe ich relativ schnell gemerkt, dass ich eigentlich nicht die Krise der Filmkritik an sich sehe. Anders als noch vor 20 Jahren kann ich jetzt unglaublich viel mehr über Film lesen. Nicht mehr nur in den klassischen Medien, aber das muss ja nicht nur ein Nachteil sein. Es gibt viel mehr lange Texte über Filme, viel mehr perspektivenreiche Texte, viel mehr Publikationen und viel mehr unkontrollierten Diskurs über Film in Blogs usw. Je nachdem, wie gut man sich auskennt, bekommt man davon etwas mit. Das heißt, ich bin mir dann selber relativ schnell auf die Schliche gekommen, dass dieses vage Unbehagen, das ich natürlich auch verspüre, nicht per se etwas mit der Kritik zu tun hat, sondern mit ganz spezifischen Ausformungen, die vor allem die Situation der Printmedien betreffen. Mir ist also der „Gegenstand“ der Diskussion in gewisser Weise abhandengekommen: Eigentlich muss man über die Krise bestimmter Medien sprechen und darüber, was dort noch Platz hat. Wenn man sich das anschaut, dann habe ich schon das Gefühl, dass der Spielraum sich extrem verengt. Was in meiner Wahrnehmung total überhandnimmt, ist alles, was mit dem Marketing für bestimmte Filme verbunden ist – das schließt jede Form der seriösen Auseinandersetzung im Grunde aus, und ebenso, über die Produktionsbedingungen zu sprechen. Es fällt auf, dass in den traditionellen Medien, also den Tagesund Wochenzeitungen, weniger Platz vorhanden ist und weniger Vielfalt an Perspektiven. Es ist leichter, ein Rieseninterview mit Tom Cruise unterzubringen, als irgendeinen kleinen, noch so interessanten österreichischen Film, für den man erst eine große Seite bekommt, wenn er als einziger österreichischer Beitrag auf einem großen Festival wie Venedig läuft. Ich sehe also eher eine Krise der Medien, des Berufsstandes, denn eine Krise der Kritik.

AZ: Ich würde auch sagen, dass die Kritik an der Kritik eine neue Dimension bekommen hat durch die Tatsache, dass wir uns nicht erst seit gestern in einem Medienumbruch befinden. Wir sagen immer noch, das spielt sich auch online ab, und merken gar nicht, dass online schon längst das wichtigere Medium ist. Damit übernehmen wir natürlich auch die Panik, die sich gegenwärtig vor allem bei den Medienmachern breitmacht: Wie soll man damit umgehen, dass einem der Printbereich abhandenkommt? Was lange Zeit als „seriös“ gegolten hat, löst sich plötzlich auf. Das ist nicht nur eine intellektuelle Krise, sondern in erster Linie eine finanzielle: Die Zeitungsmacher schauen darauf, dass sie so viel Publikum wie möglich finden, und gehen dafür auf die Billigschiene, in den Mainstream oder in das Leichtverdauliche. Dahinter steht natürlich auch die Frage, wie Medien ihre Leserschaft erziehen können oder ob nicht umgekehrt die Leserschaft die Medien bestimmt. Trotzdem, finde ich, gäbe es jetzt die Chance, dass man sich als Blattmacher hinstellt und sagt: „Wir kürzen nicht den Content, wir beugen uns nicht den Verleihern und schauen, dass wir dennoch Leser gewinnen.“ Die ökonomische Komponente ist auch deshalb so dramatisch, weil Leute, die Filmkritiker sein wollen und die auch seriös sein wollen, die über Produktionsbedingungen und Hintergründe schreiben wollen, die für eine Art von Slow Criticism stehen, dafür einfach keinen Platz finden.

IR: Um auf Ruths Frage nach dem Unterschied zwischen einer Krise der Filmkritik und der Kunstkritik zurückzukommen: Mir scheint dabei das Publikum eine zentrale Stelle einzunehmen. Kunstkritik findet für ein viel kleineres und informierteres Publikum statt, während Filmkritik, zumal wenn sie sich mit populären Filmen auseinandersetzt, für uninformierte und zugleich sehr informierte Leserinnen und Leser schreibt. Im Kino ist es so ähnlich wie beim Fußball: Jede und jeder, der ins Kino geht, weiß, ob das jetzt ein guter Film ist oder nicht. Umgekehrt findet auch die Reflexion unseres Berufsstandes nicht auf demselben theoretischen Niveau statt wie bei der Kunstkritik. Man wird sehr schnell auf einer Ebene des persönlichen Geschmacks angegriffen, die weit davon entfernt ist, produktive Fragestellungen aufzuwerfen. Selbst das Dossier, das die kolik.film macht, hat mehr mit einer ökonomischen Krise zu tun, die uns jetzt erreicht hat, nachdem wir vor drei, vier Jahren noch beobachten konnten, wie sich im angelsächsischen Raum praktisch wöchentlich renommierte Printmedien von ihren angestellten Kritikern verabschiedeten. Die konkreten ökonomischen Einschnitte bedeuten, dass ein bestimmter Platz verschwindet und damit eine bestimmte Öffentlichkeit kleiner wird. Absurderweise hat das mit den Leser(inne)n ganz wenig zu tun, weil ja nicht die Leser(innen)zahlen das Problem der traditionellen Medien sind, sondern die Werbekunden.

SG: Grundsätzlich glaube ich, dass die Filmkritik als Berufsstand tatsächlich verschwindet. Das kann man ja heute schon sehen: Menschen, die fürs Filmbesprechen noch etwas bezahlt bekommen, arbeiten meist auch in anderen Gebieten, sind Kunstkritiker, leiten ein Ressort oder sind stellvertretende Chefredakteure. Den reinen Filmkritiker, der nur ins Kino geht und ein monatliches Gehalt bekommt, wird sich kaum eine Redaktion mehr leisten. Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen ist das auch nicht mehr nötig: Wenn man eine Flotte von 100.000 Menschen hat, die das gerne auch gratis oder eben sehr, sehr billig machen, stellt sich wirklich die Frage, warum man einen sogenannten Profi dafür bezahlen sollte. Das führt aber dazu, dass – viel mehr als in der Kunstkritik – die Filmkritik sich in die Nerdkultur verschiebt. Was grundsätzlich noch nichts Schlechtes ist, weil der Nerd seinem Gegenstand ja auch in Liebe zugetan ist. Aber die Tatsache, dass Filmkritik für die meisten von uns ein prekärer Job ist, führt dazu, dass sich auch der Jargon und das Niveau verändern. Es gibt einfach viel zu viel zu lesen. Ich glaube nicht, dass Online-Filmkritik sehr bald monetarisierbar sein wird, dass Menschen, die im Internet nach Features, Essays, Kritiken, Theorien suchen, bereit sind, etwas dafür zu bezahlen.

BP: Das allgemeine Problem, das habt ihr ohnehin schon angesprochen, hat natürlich damit zu tun, dass Film nicht als Kunst zählt. Das ist nach meiner Wahrnehmung der hauptsächliche Unterschied zur Kunstkritik, auch in den realen Ausprägungen des Berufs. Film wird von den meisten Medien nicht als Kunst wahrgenommen, sondern dem Unterhaltungssektor zugeordnet, weshalb man ja auch gleich ein intellektueller Dödel ist, wenn man ein Blockbuster-Movie in Satzkonstruktionen mit mehr als einem Relativsatz beschreibt. Total unbekannte Filmemacher( innen), Hintergründe, die nur einen kleinen Ausschnitt des Publikums interessieren, zu intellektuelle, zu theoretische Herangehensweisen eignen sich alle nicht, ein großes Publikum zu erreichen. Dass diese Nivellierung heute auch die sogenannten Qualitätsmedien – mit Abstrichen, klar – betreiben, das macht einen Unterschied, dem die Kunstkritik so nicht ausgesetzt ist.

RS: Ich weiß nicht, ob das so stimmt. Ich versuche mal, eine Alternative zu entwickeln. Es gab 2007 im MUMOK eine Tagung zur „Krise der Kunstkritik“, wo genau dasselbe über bildende Kunst gesagt wurde.3 Der Tenor war: Ende eines Berufsstandes, wir sind alle nur mehr Freelancer, man findet wahnsinnig tolle Sachen im Netz, aber die werden halt nicht bezahlt, das machen wir alle in der Freizeit. Hinzu kommt: Es gibt mittlerweile im Bereich der bildenden Kunst auch Blockbuster-Ausstellungen. Was in der Albertina ausgestellt wird, bekommt immer ein Blockbuster-Textchen in den Tageszeitungen, was in einem Off-Space läuft, interessiert hingegen kaum, es gibt dieselbe Festivalisierung usw.

BP: Lass mich kurz einwerfen: Ich habe nicht die Auswirkungen gemeint, sondern die grundsätzliche Erwartungshaltung der Leserschaft. Klar gibt es auch Blockbuster-Ausstellungen, aber die Haltung „Ich kenne mich sowieso mit allem aus, weil ich einmal im Monat ins Kino gehe“ hat relativ viel Einfluss auf alle Debatten über die Formen der Kritik.

RS: Also ich fand, in den ersten Zeiten der sogenannten Kritikkrise war es für die Kunstkritik wahnsinnig heilsam, einmal eine aufs Dach zu kriegen, weil die Kunstkritik immer eine weitgehend unhinterfragte Kanonisierungsfunktion gehabt hat. Weil Kunst so ein kleines Feld war, hieß über jemanden zu schreiben tendenziell, sie oder ihn in den Kanon zu holen. Dieses symbolische Kapital war lange Zeit immer noch wichtiger als der Markt. Es war ja auch so, dass Sammler und Sammlerinnen sowie Kapitalmärkte sich an diesem Kanon orientiert haben. Das ist nicht ganz verschwunden – die schauen sich immer noch die großen Magazine an –, aber diese Kanonisierungsfunktion ist mittlerweile kleiner geworden und das finde ich sehr heilsam für die Kunstkritik. Jetzt würde mich interessieren, wie ist das beim Film? Meine Vermutung wäre, das war von vorneherein anders, weil der Film immer auch eine Industrie war. Oder würdet ihr sagen, die Filmkritik hat genauso eine Kanonisierungsfunktion gehabt? Wenn es darum geht, die einmal zu durchbrechen, finde ich das ganz okay. Wenn ich heute über einen Film oder über eine Künstlerin etwas herausfinden will, gehe ich erst einmal immer ins Netz und bin erstaunt darüber, was man alles findet. Für mich liegt die große Herausforderung in der Frage, wie man Intellektualität und Komplexität gerade auch im Netz wertschätzt und weiterentwickelt und wie man die dort geleistete Arbeit angemessen bezahlen kann.

IR: Gerade die Kanonisierungsdebatte ist lustigerweise eine der wenigen selbstreflexiven Debatten, die die Filmkritik in den letzten zehn bis 15 Jahren geführt hat. Denn natürlich gibt es diese Kanonisierungsfunktion, und es gibt die mittlerweile ex- und implodierende Listenmanie vor allem zum Jahresende – also die Bestenlisten des Jahres und die Liste der fünf schlechtesten oder der fünf verkanntesten Filme. Dann gibt es noch die 100-Jahre-Listen der besten Filme aller Zeiten usw. Vor dem Hintergrund solcher Praktiken wurde der Kanon infrage gestellt – das hat dann unter anderem im Programm des Österreichischen Filmmuseums Niederschlag gefunden, wo man versucht hat, den Kanon zu durchbrechen. Was natürlich zu weiteren Debatten führte darüber, ob der Gegenkanon nicht zu neuen Verfestigungen beiträgt beziehungsweise, in einem weiteren Schritt, über den Verbleib der weiblichen Filmschaffenden. Aber über die Kanonisierungsfunktion herrscht innerhalb der Filmkritik immerhin ein Bewusstsein.

SG: Allerdings hat der Machtverlust der Filmkritik analog zu dem der Kunstkritik eingesetzt. Die Filmkritik ist sehr viel weniger mächtig als vorher. Ich halte das auch für einen Vorteil, es beruhigt schlicht das Gewissen, denn man kann Filme durch Verrisse längst nicht mehr ökonomisch vernichten und durch Hofberichterstattung auch nicht zu Blockbustern hochjubeln. Das funktioniert einfach nicht mehr. Insofern arbeitet es sich ein wenig befreiter, weil man Dinge auch einfach beschreiben kann, weil man die Freiheit hat, zu Filmen starke Thesen aufzustellen oder starke Ansagen zu machen, die zumindest ökonomisch wenig ausrichten. Dass diese Praxis trotzdem zu Verstimmungen führt, ist klar: Leute, die Industriekino machen, wollen ja nicht nur den ökonomischen Erfolg, sondern auch noch von der Kritik geliebt werden.

AZ: Dieser Machtverlust geht auch einher mit etwas, das auf den ersten Blick wie eine „Demokratisierung“ der Kritik wirkt. Über diesen Begriff und den möglichen Prozess müssen wir reden bzw. schauen, in welcher Form das wirklich stattfindet. Es stimmt, dass sich mittlerweile jeder zu Filmen äußern kann – und das sehr breitenwirksam in Kommentaren oder in Foren im Internet. Dazu kommen Regisseure, die ihre Filme auf Wegen vertreiben, die eine professionelle Kritik umgehen, die direkt mit ihrem Zielpublikum in Kontakt treten und sich dort eine Pseudokritik abholen, die den Film unterstützt. All das sind Faktoren, die eine Filmkultur, wie sie bisher stark hierarchisch – und kanonisch – bestimmt war, infrage zu stellen scheinen.

: Das verweist zum einen auf das, was Ruth gesagt hat, dass die Kanonisierungsfunktion der Kunstkritik in den Hintergrund getreten ist. Auf der anderen Seite hat sie aber auch gesagt, dass der Marktwert von Kunstwerken sich traditionell an der Kritik orientierte. Daraus folgt im Grunde, dass der Kritik, wenn sie auf ihre Kanonisierungsfunktion verzichtet, ihr diskursives Feld und in weiterer Folge das wegbricht, was man als Filmkultur bezeichnet. Das ist ein interessanter Punkt, der gegen die Gleichsetzung von Internetverbreitung und Demokratisie- rung spricht. Wenn man den Umstand, dass jeder im Netz schreiben kann, was er will, bereits als Demokratisierung bezeichnet, um welche Form der Demokratisierung handelt es sich dann? Worin besteht eigentlich das Autonomieverlangen, das von der Kritik geäußert wird? Hat die Demokratisierung im Netz dazu geführt, dass mehr marginale Filme besprochen werden, oder äußert man sich in der Hauptsache doch wieder zu den Dingen, die ohnehin groß im öffentlichen Diskurs gespielt werden?

SG: Ich glaube schon, dass da hauptsächlich Affirmation passiert. Und ich gebe dir auch recht, was die Demokratisierung betrifft. Kritischer Journalismus ist eine demokratische Praxis und der Journalismus, der im Netz – noch dazu unter Nicknames – betrieben wird, hat meiner Meinung nach nicht viel mit Demokratie zu tun. Das redaktionelle Netzwerk sorgt schon dafür, dass „sauberer“ gearbeitet wird. Es gibt Redaktionsstatuten und ein Medienrecht, was bestimmte Übertretungen einfach nicht zulässt. Ein Qualitätsblatt kann nicht deswegen, weil ein Verleiher inseriert, dessen Filme größer besprechen. Das wird nicht passieren, da werden sich alle seriösen Medien dagegen wehren. In Onlineforen bin ich mir da nicht so sicher.

BP: Was im Netz passiert, bleibt vereinzelt. Filme, audiovisuelle Formen sind in unserer Gegenwart omnipräsent. Aber als Folge der ökonomischen Krise fällt mir sehr stark auf, dass der Diskurs darüber in den sogenannten Qualitätsmedien immer schmaler wird. Es werden zwar mehr Filme produziert als je zuvor und wenn man alle Rezeptionsmöglichkeiten einbezieht, auch mehr Filme gesehen. Es wird mehr geschrieben und veröffentlicht. Aber mein Eindruck ist, dass ein viel kleineres Spektrum an Diskursen auch wirklich wahrgenommen wird – und zwar auf der Ebene gesellschaftlicher Wahrnehmung und nicht nur von einer Fangruppe. Darin sehe ich auch die Kehrseite der Verabschiedung des Kanons: Es ist sicher heilsam, die Machtfunktion abzubauen und dies in die Selbstreflexion der Kritik einfließen zu lassen. Aber andererseits fehlt damit auch ein Rahmen, in dem sich eine größere Gruppe mit der Kritik oder gegen sie austauscht, um zu einer Haltung zu kommen – zu einem Film, zu einer Produktionslandschaft und so weiter. Das verschwindet, und damit verkehrt sich die vermeintliche Demokratisierung in ihr Gegenteil. Das finde ich bedrohlich – über die Tatsache hinaus, dass es für Kritiker(innen) nicht mehr möglich ist, mit ihrer Tätigkeit ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

RS: Die Frage wäre also, was für eine Komplexität der Auseinandersetzung wir wollen, und was ich am gerade Gesagten sehr spannend finde, ist, dass es eigentlich um Bildkritik, um Visualitätskritik geht. Vermutlich ist es veraltet, danach zu fragen, wo genau die Kunst ist und wo der Film – was ich wichtig finde, ist unser Umgang mit Visualität in jeglicher Hinsicht. Wenn ich eine Einführung in Bildkritik machen müsste, würde ich mich immer auf Farocki beziehen, und gar nicht in erster Linie auf geschriebene Theorie. Vielleicht könnten wir an diesem Punkt zusammen weiterdenken. Das andere Spannende ist: Es geht alles online. An dem, was du beschrieben hast, geht kein Weg vorbei, und man weiß nicht, wo das hinführt. Aber Stuart Hall zum Beispiel, der ja auch als wichtiger Bildtheoretiker in Erscheinung getreten ist, hat sich in seinen letzten Artikeln mit dem Common Sense im Netz auseinandergesetzt und gemeinsam mit anderen ein wichtiges Manifest gegen den Neoliberalismus verfasst, in dem es auch um die Rolle des WWW für die Kritik geht. Ausgehend von Gramsci, der ja auch mit dem Common Sense arbeiten wollte, geht es Stuart Hall darum, Hegemoniepolitik zu machen mit dem, was an emanzipatorischen Elementen im WWW-Common-Sense bereits vorhanden ist. Das zu verstärken bedeutet in seinen Augen, Intellektualität und Komplexität ins Netz zu bringen. Anstatt zu klagen, was in den Printmedien alles nicht mehr möglich ist. Diese Aktivitäten gehen zum Glück nach Halls Tod weiter. Da passiert etwas, das mir in den Diskussionen auf dem Festland stark fehlt: Wie bringt man Theorie und Komplexität in Onlinediskurse rein? Und natürlich auch: Wie kann man da für Bezahlung sorgen?

AZ: Durchs Internet findet eine Globalisierung von Zugänglichkeit und Inhalten statt, die aber nicht einhergeht mit einer Universalität von Diskursen. Wenn ich bei der Filmkritik bleibe: Wir beklagen zu Recht, dass es im deutschsprachigen Raum einen Mangel an Intellektualität in der Auseinandersetzung gibt. Wenn man den angelsächsischen Raum betrachtet, ist das ein bisschen anders, dort sind intellektuelle Auseinandersetzungen viel populärer – eine Verbindung von populärem Anspruch und gleichzeitiger Tiefgründigkeit. Wir übersehen aber immer, dass die Inhalte zwar überall zugänglich sind, aber nie davon gesprochen wird, wie visuelle Kritik z. B. in Afrika oder Indien oder im Iran stattfindet, wo Filmkritiker(innen) gesellschaftspolitisch ganz anders informiert sind, mit Strukturen oder Lebenssituationen zu tun haben, die sie ganz anders beeinflussen. Da tut sich etwas auf – eine Chance, aber auch eine Problematik. Ich will darauf hinaus, dass wir auch darüber sprechen müssen, wie sich Filmkritik globalisieren wird im Sinne von weltweit jederzeit verfügbar, während sie ihre kontextuellen, kulturellen, individuellen, persönlichen Singularitäten aufrechterhält. Weil Filmkritik als Diskursform wahrscheinlich nur dann überleben kann, wenn man die Chance auf Vernetzung und Verständigung auch untereinander nutzt.

BP: Ich glaube im Gegenteil, dass man als Kritiker(in) die eigenen Kontexte viel klarer reflektieren wird, weil man durch diesen Zugriff auf ganz andere Filmkulturen ja auch ganz deutlich vor Augen geführt bekommt, dass man sie teilweise nicht versteht. Es ist vielleicht das Problem einer gewissen Form von Filmwahrnehmung, dass man versucht, alles auf ein allgemein verständliches Level zu heben, und es damit stark vereinfacht. Was wir tun wollen, bedeutet vielmehr: sehr spezifisch sprechen.

: Das ist eine Grundidee, die ich aus Foucaults Vortrag über die Kritik ableiten konnte, dass die Haltung der Kritik niemals auf eine Universalisierung hinausläuft und sich nie auf allgemeine Prinzipien verlassen kann. Was die Haltung der Kritik auszeichnet, ist vielmehr, dass sie es immer mit Singularitäten zu tun hat. Diese lassen sich nicht unendlich übersetzen – man wird kein Modell von Kritik finden, das in einem globalen Maßstab funktioniert, das wäre die universell erfolgreiche Kritik, wo jeder sich entweder positiv oder negativ dazu verhält und wo es auf der Ebene des Nachvollzugs und der Verständlichkeit keine Differenzen gibt. Das wird es nicht spielen, sondern eher eine Art situierter Form von Kritik. Wenn diese Kritik im Netz ist, ist sie global zugänglich, und es spricht nichts dagegen, dass die Kritikerin in Indien das aufgreift und in ihre Singularität einbaut.

RS: Indem ich lese oder mit bestimmten Leuten spreche, merke ich ja, das interessiert die gar nicht, was ich gerade toll finde, oder das haben die vor 20 Jahren diskutiert. Dadurch wird mir viel klarer, wie geopolitisch klein mein Horizont ist und was ich alles nicht weiß. Das birgt schon Chancen, aber mehr im Sinne der Infragestellung – und das wiederum hängt mit der Demokratisierungsfrage zusammen: Was kommt rein, was hat eine Chance, irgendwo konfrontiert bzw. aufgenommen zu werden?

SG: Aber die Dechiffrierung des Exotischen ist doch überhaupt eine Aufgabe der Kunstkritik. Ich muss da nur bis nach, sagen wir, Linz schauen: Einen Film von Dietmar Brehm sehe ich als ein exotisches Werk, das mich vor das Problem stellt, es zumindest ansatzweise entschlüsseln zu müssen, und vor dem ich erst einmal stehe wie ein Ochse und mich frage: Was meint der überhaupt, wenn er dieses komische digitale Bild eines künstlich gefärbten und gefilterten Kreuzes filmt? Und er meint in der Regel jedenfalls nicht den Katholizismus damit. Ich finde, der Sprung von beispielsweise Brehm zu einem indischen oder einem iranischen Film ist nicht so weit, wie man meinen könnte.

IR: Die Oberfläche ist anders. Wenn wir von einer populären Form, von einem Spielfilm ausgehen, dann kann der vordergründig so gearbeitet sein wie ein Hollywoodfilm, mit der entsprechenden Dramaturgie. Dann geht man dem vielleicht eher auf den Leim und nimmt an, man könnte es verstehen, als wenn etwas von vorneherein so erratisch dasteht wie ein Film von Brehm.

SG: Auf den Leim gehen kann man immer. Ich bin ja auch der Meinung, dass sich jede Kritikerin, jeder Kritiker ununterbrochen irrt. Seeßlen schreibt das so: „Jeder Kritiker irrt sich ununterbrochen vor dem, was er selbst produziert, nämlich Filmgeschichte.“ Und wenn die alte Regel immer noch stimmt, dass sich ein Werk erst vollendet im Auge oder vielmehr dahinter, im Hirn des Betrachters, dann muss man sagen, hat man ja auch das Recht, sich zu irren und einen völlig subjektiven, persönlichen Blick auf alles zu werfen – gerade auch auf das, was einem exotisch erscheint. Und wenn ich damit falsch liege – so what.

BP

: Das schon – aber ohne Anspruch auf universelle Gültigkeit zu erheben, was wiederum eine gewisse Tendenz zu einer simplen Form von Filmkritik ist. Das, was du beschreibst, ist der normale Vorgang, wie man sich gegenüber einem Film, einem Kunstwerk positioniert. Und du argumentierst es ja auch innerhalb deiner Kritik

SG: Ich will natürlich auch nicht behaupten, dass es nicht sehr wünschenswert wäre, theoretisch und kulturhistorisch aufzurüsten, um etwas filmkritisch zu begreifen, dass man nur persönlich und subjektiv schreiben müsste – und das passt dann schon. Aber man wird nur ein bestimmtes Level an Bildung erreichen, egal ob man über Filme aus Peking oder Linz schreibt. Irgendwann muss man sagen: Okay, so weit die Tatsachen – der Rest ist mein Blick darauf

RS: Ich finde es ganz wichtig, zu sagen, die Exotik fängt unter Umständen oder meistens in Linz an. Aber gleichzeitig und persönlich gesprochen: Selbst wenn ich jahrelang darüber lese, hat mein kulturhistorisches Wissen über Namibia oder über den Senegal oder Japan einen ganz anderen Status als mein implizites Wissen über Linz. Sich das bewusst zu halten, ist wahnsinnig wichtig. Mein angelesenes Wissen läuft vielleicht im besten Fall auf Markierungen hinaus, wo ich vielleicht besser den Mund halte – oder was ich zum Anlass nehme, noch mal genauer zu schauen. Es gehen ja auch bei den Produzent(inn)en so viele unbewusste Gesten, Referenzen usw. ein, die mit einer Sozialisation zu tun haben, die mir unter Umständen fehlt, und dem soll man vielleicht gar nicht unter allen Umständen beikommen wollen. Die Frage ist halt: Wo ist das produktiv? Oder wo ist es halt vielleicht auch produktiver, über Linz zu schreiben?

SG: Es ist natürlich luxuriös, wenn man sich das aussuchen kann. Es gibt ja genug prekär arbeitende Filmkritiker(innen), die den Auftrag kriegen, für 40 Euro über einen Film aus Namibia oder ähnlich fernen Regionen zu schreiben – und das in zwei Stunden.

: Die Frage der Übersetzbarkeit scheint aber doch wichtig zu sein. Wir sind in einer Phase der Diskussion, wo die Frage der Komplexität und der Intellektualität der Kritik auf dem Tisch liegt. Mir scheint es so zu sein, dass es trotz der Möglichkeit des Zugriffs auf andere Perspektiven ein allgemeines Komplexitätsverständnis braucht, um übersetzbar zu bleiben zwischen den verschiedenen Kontexten, die man nicht erschöpfend beantworten kann.

BP: Ist das nicht die Frage nach dem Publikum? Für wen schreibt man? Ich bin keine Schreiberin, sondern eine, die liest, was ihr produziert. Ich habe gewisse Erwartungen, wenn ich zu einem bestimmten Medium greife. Im Netz gilt das weniger – außer es sind eindeutig definierte Blogs. Ich stelle es mir für die Schreibenden sehr schwierig vor, eine Sprache zu finden, die ihre Perspektive ausdrückt und zugleich allgemein verständlich bleibt.

SG: Aber wenn du eine Diagonale-Eröffnungsrede hältst, geschieht das ja auch für ein sehr heterogenes Publikum – da sitzen Politiker, Kritiker, Festgäste, Filmfreunde. Und du machst es so, wie du es für angemessen hältst.

BP: Aber es ist trotzdem ein sehr definiertes Publikum, und ich kenne die Mischung dieses Publikums. Ich habe natürlich keine Ahnung, welche Dynamiken entstehen, auch nicht, welche der Film auslöst, den ich aussuche …

SG: Was würde deinen Text beeinflussen?

BP: Wenn ich das Gefühl hätte, ich rede vor einem „kulturfernen“ Publikum, das einmal in zehn Jahren so eine Veranstaltung besucht, und ich habe jetzt die Gelegenheit, ein paar Dinge zu formulieren, die mir in diesem Berufsfeld wichtig sind. Dann würde ich das sicher anders formulieren als vor diesem zwar gemischten, aber zum Teil sehr informierten Premierenpublikum. Genauso rede ich mit einem Zwölfjährigen anders über einen Experimentalfilm als bei einer Vorlesung am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Klar passe ich meine Sprache an, und das meine ich nicht in einem bevormundenden Sinn: Um etwas als interessante Perspektive aufzugreifen, muss ich es verarbeiten können. Das, was einem da als Köder hingeworfen wird, muss spannend wirken, damit jemand denkt, damit beschäftige ich mich jetzt weiter. Das erwarte ich ja auch von einer Filmkritik – dass mir eine Perspektive aufgezeigt wird und ich vielleicht sage, was für ein Blödsinn, oder aber, ich verstehe jetzt, warum du den Film interessant gefunden hast, auch wenn ich mich gelangweilt habe. Diese Haken wirft man aus. Und mit dem Netz habe ich das Problem, dass ich als Leserin überhaupt erst etwas finden muss, wo ich andocken kann.

AZ: Aus der Perspektive der Schreibenden fällt mir dazu ein, dass ich in meinen Anfängen immer gedacht habe, ich muss für Tageszeitungen einen anderen Ton und einen anderen Stil haben, als würde ich zum Beispiel im Internet für einen Blog schreiben. Damals war das noch deutlicher unterschieden, im Blog war es kolloquialer, der Amateurismus ist einen quasi angesprungen. Zumindest im englischsprachigen Raum finde ich inzwischen, dass die Schreibweisen von Printmedien und Onlinekanälen verschmelzen, dass also auch im Print eine Personalisierung des Artikels viel stärker unterstützt wird. Und als Freelancerin bin ich mittlerweile gezwungen, Texte zu schreiben, ohne zu wissen, wo und von wem sie publiziert werden – die sind aber sowohl online als auch in Printmedien erfolgreich. Interessant daran ist, dass die Subjektivität einer Kritik mit einer Personalisierung einhergeht, die öffentlich gemacht werden darf. Dass es nicht nur eine Kritik ist, sondern diese von einem bestimmten Kritiker geschrieben wurde. Darin besteht in Zukunft vielleicht auch eine Chance, dass man mehr als Autor wahrgenommen wird.

: Eine Frage, die man noch aufwerfen könnte, wäre jene nach der „aktivistischen Filmkritik“, zu der deutsche Kolleg(inn)en in ihrem Flugblatt aufrufen. Was könnte das heißen? Denn dort scheint das Problem ja auch genau das, dass man sich bedroht fühlt, dass einem der Gegenstand abhandenkommt, und andererseits, dass man dafür sorgen will, eine Diskursebene einzurichten, die doch eine gewisse Verbindlichkeit hat.

SG: Ich glaube, dass die Verfasser(innen) von der Verzweiflung getrieben sind, dass ihr Berufsstand stirbt, und dass sie noch einmal alles wollen: Filmrezension als Gesellschaftskritik, Filmkritik als guten, klugen Spaß, Filmkritik als soziale Intervention, als Debattenanzünder

: Aber das ist hier ja auch aufgetaucht. Ruth hat gemeint, dass sie es wichtig finden würde, wenn sich die Kritik Fragen der Bildkritik, der Theorie öffnet.

SG: Klar, diese Selbstreflexion fehlt zu einem Gutteil. Wir wünschen uns alle, dass wir Debattenführer sein könnten. Aber das Problem ist auch, dass der Film die Wertigkeit verloren hat, die er noch vor 20, 30 Jahren hatte. Und auch Filmkritiken werden inzwischen nur noch als Ware behandelt, schnell einmal quergelesen, um zu wissen, bin ich dafür oder dagegen. Mit reiner Filmkritik, die nicht über die Grenzen eines Films hinausdenkt, wird es schwierig sein, Debatten zu entzünden.

RS: Es gibt grandios tolle Sachen im Netz. Und ich frage mich, warum es sich nicht durchsetzt, am Ende eines Artikels noch fünf Links mit alternativen Kritiken, anderen Informationen anzugeben. Denn zum Diskurs gehört es auch, zu sagen, ich bin eine Stimme unter vielen.

AZ: Dazu gehört ein Solidaritätsdenken, und das gibt es nicht.

RS: Eben, da müssen wir uns als Kritiker(innen) und Theoretiker(innen) selbst an der Nase nehmen, denn wir sind auch oft Egos. Aber zum Diskurs gehören Verweise wie „XY recherchiert und schreibt zu diesem Thema schon seit zehn Jahren“ – das kriegt man auch in einer Tageszeitung unter. Gar nicht, weil alle diesen Hinweisen dann unbedingt nachgehen müssen, aber um zu zeigen: Das ist komplexer, als was man z. B. in einer Tageszeitung schreiben kann. Schließlich gibt es genug Leute, die sozusagen nie um die eigene Hausecke kommen, sondern immer nur die eine Zeitung und den einen Blog lesen. Das würde für mich zu einem Diskurs gehören, abgesehen davon, dass man so die Produktionsbedingungen mitzeichnet, mitschreibt: Ich bin nur eine von vielen; alles, was ich sage, überschreitet mich in zig Dimensionen.

AZ: Ich stimme dem zu, aber momentan ist jeder zuerst damit beschäftigt, seine eigene Sichtbarkeit zu gewährleisten. Die sieht man bedroht, sobald man auf andere verweist. Vielschichtigkeit wird auch aus Angst reduziert, aus Egobezogenheit, die zwar verständlich sein mag, aber einem komplexen Diskurs nicht zuträglich.

BP: Wer wird auf andere verweisen, wenn überall Stellen gekürzt werden und man sich damit in den Augen von Arbeitgeber(inne)n womöglich redundant macht?

IR: Was den Aktivismus betrifft, könnte man hier aber übers Kino hinaus auch noch einmal das Gesellschaftliche in den Blick nehmen. Und beispielsweise eine Idee von Gesellschaft forcieren, die für einen bestimmten intellektuellen Input auch aufkommt, und sich in Debatten um das bedingungslose Grundeinkommen einklinken. Schließlich betrifft es ja nicht nur Schreibende, dass die Privatwirtschaft in bestimmte Sektoren nicht mehr investiert. Man könnte die Forderung, für diese gesellschaftlich relevante Arbeit angemessen bezahlt zu werden, ja auch an andere Instanzen zurückdelegieren – und wenn es die Zeitungen nicht mehr gibt, könnte man die Presseförderung entsprechend umwidmen, Kollektive im Netz finanzieren, und Einzelne wären entlastet vom Druck, sich als solche zu profilieren.

BP: Also von der Film- und Kunstkritik hin zur Gesellschafts- und Kulturpolitik – da sind wir dabei, oder? Ich sympathisiere mit so vielen Meinungen und Gefühlen, die im Flugblatt artikuliert sind, zumal die Argumentation sich eins zu eins auch auf Festivals umlegen ließe: Es geht um ein Angebot, darum, sich vom Zuschauerzahlendruck zu befreien, Perspektiven aufzumachen – in den Problemen und Wünschen ist man einander da sehr nahe, und ich verstehe völlig, was gefordert wird. Aber mir ist nicht ganz klar, was der Aktivismus sein soll. Ich sehe den Wunsch formuliert, anerkannt zu werden für das, was man leistet. Aber ich habe mich wirklich lange gefragt, was die Aktion sein könnte, die wirklich Aufmerksamkeit erregt, die Schalter umlegt.

RS: Ich habe mich auch ein bisschen an dem Ausdruck gestoßen, denn da wird etwas angestoßen, was der Text dann nicht so richtig leistet. Aber ich denke, eine Gesellschaft zu fordern, wo Denken und Filmemachen und Schreiben machbar sind, mit dem Überleben zusammengehen, das ist eine immens politische Forderung. Wenn man das als Forderung nach einem Grundeinkommen liest und sagt, nur in so einer Gesellschaft wollen wir leben, die diese Dinge auch möglich macht – das wäre ein mögliches Verständnis von Aktivismus.

AZ: Momentan besteht der Aktivismus auch einfach darin, weiterzumachen – gegen alle Widrigkeiten. Es ist ein implodierender Aktivismus …

: Es ist vielleicht ein situativer Aktivismus – er benennt ja, wogegen er seine Aktivität aufbieten will, und das ist die Vereinnahmung der Kritik durch die Dienstleistungsanforderungen. Das heißt, er will Kritik dorthin bringen, wo sie immer schon war, nämlich zu einer Praxis der Freiheit. Dass es für diese Praxis bestimmte Rahmenbedingungen geben sollte, das wäre die nächste Forderung. Aber der erste Aktivismus beginnt dort.


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